Interview zum Thema "Analphabetismus" in Deutschland "Das Lernen neu lernen"

Analphabetismus ist immer noch ein Problem. Am Montag soll mit einer Konferenz an der Volkshochschule eine neue Offensive dagegen starten. Rundschau-Mitarbeiter Fabian Mauruschat sprach mit VHS-Fachbereichsleiterin Angelika Schlemmer.

Angelika Schlemmer kümmert sich an der Bergischen VHS um Menschen, die nicht lesen und schreiben können.

Foto: VHS

Was müssen Sie beachten, wenn Sie an der VHS Erwachsenen Lesen und Schreiben beibringen?

Viel. Der größte Unterschied zur Erstalphabetisierung in der Schule ist der, dass diese Menschen eine gescheiterte Schulkarriere hinter sich haben. Das bedeutet Scheitern auf vielen Ebenen. Sie sind frustriert durch das Lernen, sie haben das Zutrauen in sich verloren, sie sind davon überzeugt, dass sie eigentlich gar nichts können. Das Lernen muss neu gelernt werden. Ein neuer Schritt muss getan werden, der persönlichen Mut erfordert.

Es geht also auch darum, das Vertrauen der Menschen zu gewinnen?

Die Lehrkräfte müssen den Unterricht mit großer Sensibilität gestalten. Die Teilnehmer sind Erwachsene, sie kommen freiwillig und können jederzeit aufhören. Wenn die Frustration beim Lernen sich so entwickelt wie in der Schule, dann gehen sie. Man muss ihnen Mut machen, es zu versuchen.

Wie viele Menschen mit erheblichen Lese- und Schreibproblemen gibt es in Wuppertal?

Bisher wurde das immer nur geschätzt, aber seit kurzem haben wir zwei Studien mit wirklich fundierten Zahlen. Denen zufolge haben wir 7,5 Millionen funktionale Analphabeten in Deutschland, also Menschen, die Schrift im Alltag nicht selbstverständlich einsetzen können. Darunter etwa 300.000, die nur Buchstaben erkennen und mehr nicht. Wenn man das auf Wuppertal umrechnet, dann leben hier etwa 7.800 funktionale Analphabeten und 1.200 Menschen auf dem niedrigsten Level.

Was sind denn die Ursachen dieser Probleme?

Das fängt an bei Vernachlässigung von Kindern, bei Leistungsproblemen in der Schule. Dadurch ist das Zutrauen in die eigenen Fähigkeiten gering. Diese Faktoren verstärken sich gegenseitig. Dann kommt hinzu, dass die Erstsprache wichtig ist. Wer Deutsch nicht als Muttersprache hat, für den ist das Lernen ungleich schwerer. Und Erwerbstätigkeit wirkt sich positiv aus. Möglicherweise, weil die Nutzung der Sprache in der Arbeitswelt geübt wird.

Wie kommt denn jemand durch den Alltag, der nicht lesen kann?

Es gibt viele, die das sogar vor ihrem Partner jahrelang verheimlichen können. Ich habe schon öfter Paare hier gehabt, bei denen einer von beiden sagt: "Ich habe mir das schon gedacht, aber sie/ihn nie angesprochen." Aus irgendeinem Grund kommt es dann doch heraus, zum Beispiel wenn sich die Lebenssituation ändert, Kinder geboren werden oder Ähnliches. In einem Fall hat der Vater dem Kind nie vorgelesen und die Mutter ihm vorgeworfen, das Kind nicht zu lieben. Erst dann hat er es gesagt. So etwas ist dann der Grund, etwas zu ändern.

Das Verheimlichen — liegt das auch an Furcht vor Ausgrenzung?

Die meisten verschweigen ihren Analphabetismus aus dieser Angst. Wer in Arbeit steht, geht in der Regel nicht offen damit um. Weil negative Folgen befürchtet werden, Angst davor, nicht mehr für voll genommen zu werden. Die meisten empfinden das unzureichende Lesen und Schreiben als Makel und verstecken sich. Sie brauchen immer jemanden, der ihnen hilft, weil sie selbst nicht durch den Alltag kommen. Ein von mir häufig gehörter Wunsch ist: "Ich möchte mal selbst ein Formular ausfüllen können."

(Rundschau Verlagsgesellschaft)