Bergische Transfergeschichten „In der Schule findet kaum Sexualerziehung statt“
Wuppertal · An der Bergischen Universität ist Sozialwissenschaftlerin Dr. Anna Hartmann am Lehrstuhl Allgemeine Erziehungswissenschaft/Theorie der Bildung federführend an dem Projekt „Sexuelle Bildung“ beteiligt. In den Bergischen Transfergeschichten erklärt sie, warum es wichtig ist, neue Konzepte für die Sexualerziehung in Schulen zu entwickeln.
Sind wir in Bezug auf „Sexuelle Bildung“ eine tolerante Gesellschaft? Gerade jüngste Ereignisse wie das Verbot der Stadionbeleuchtung in Regenbogenfarben durch die UEFA während der Fußball-Europameisterschaft oder das Homosexuellengesetz im europäischen Ungarn geben uns durchaus zu denken.
Ein gesellschaftliches Umdenken muss bereits bei den Jüngsten beginnen, denn Sexualerziehung ist vielmehr als die bloße Aufklärung der menschlichen Anatomie. „Sexualerziehung ist ein schulischer Auftrag, den es schon seit 1968 gibt“, sagt Hartmann, und die Frage, die das Projekt mit in Gang setzte war: „Wie setzen das eigentlich Schulen um und wie wird das in der Lehrerinnen- und Lehrerbildung integriert?“
„Vielleicht war das Verbot der UEFA in München sogar ein glücklicher Zufall“, sagt Hartmann, „denn dadurch hat die Debatte auch wieder an Fahrt aufgenommen und die Auseinandersetzungen, die gerade in Ungarn laufen, werden sichtbarer.“ Symbolpolitik ohne strukturelle Auswirkungen nennt Hartmann diesen Vorgang, der aber auch im scheinbar liberalen Deutschland kontrovers diskutiert würde, auch wenn die rechtliche Lage hier sicher eine andere sei, als in Ländern wie Polen und Ungarn, wo besonders die Situation für Homosexuelle und transidente Menschen deutlich schwieriger erscheine.
„Man kann sehen, dass es in Europa eine Spaltung von eher progressiven Ländern in Bezug auf sexuelle und geschlechtliche Fragen gibt“, erklärt sie, „aber diese Debatte spielt eben auch in der Bundesrepublik eine Rolle. Wir finden hier auch Kontroversen in Bezug auf sexualpolitische oder sexualpädagogische Fragen.“
Wie will Europa mit Geschlecht und Sexualität umgehen?
Die EU-Kommission will die Rechte von sexuellen Minderheiten in der Europäischen Union besser schützen und stärken. Aber der Widerstand einiger Mitgliedsstaaten ist groß. LGBT+-Menschen – LGBT steht für Lesbian, Gay, Bisexual and Transgender – berichten von zunehmender, flächendeckender Diskriminierung. Das dokumentiert eine großangelegte Studie der EU-Agentur für Menschenrechte. Demnach gaben 2019 rund 43 Prozent der Befragten Mitglieder der Community an, sich diskriminiert zu fühlen. Russland hat seit 2013 ein Homosexuellengesetz, Ungarn hat seines gerade verabschiedet.
Was passiert da eigentlich im vereinten Europa? „Europa driftet in Bezug auf die Frage: ,Wie wollen wir mit Geschlecht und Sexualität umgehen?‘ auseinander“, sagt die 38-Jährige. „Auch Deutschland ist nicht so progressiv und hat da noch eine recht junge Geschichte.“ Erst im Jahr 2000 beispielsweise outete sich Klaus Wowereit, der damalige Berliner Oberbürgermeister. Vieles sei noch widersprüchlich, wobei die Homosexuellen- sowie die Frauenbewegung schon einiges erreicht hätten, was auch in der Politik umgesetzt wurde.
Die EU will die so genannte Konversionstherapie verbieten, eine pseudowissenschaftliche und gesundheitsschädliche Praxis, die Homosexuelle zu Heterosexuellen machen soll. Ebenso sollen Kinder, die als Intersexuelle, also mit Variationen von weiblichen und männlichen Geschlechtsmerkmalen geboren werden, nicht ohne ihre Zustimmung operativ einem Geschlecht zugeordnet werden. Und um die Sicherheit von LGBT+, denen Hassrede und Gewalt widerfährt, zu gewährleisten, soll homophobe Hetze im EU-Recht als Verbrechen verankert werden. Tatsache ist, nur 21 von 27 Ländern in der EU erkennen gleichgeschlechtliche Partnerschaften an. Bei der Adoption sind es noch weniger Staaten.
Ist unter diesen Umständen überhaupt ein Konsens in Europa möglich? „21 von 27 Staaten sind schon relativ viel“, erklärt Hartmann. „Ich bin 1983 geboren und während meiner Jugend in den 80er und 90er Jahren gab es keinen Staat, in dem homosexuelle Partnerschaften in einer rechtlichen Form möglich waren.“ Die große Polarisierung in Bezug auf Geschlecht und Sexualität mache einen Konsens mit konservativ ausgerichteten Positionen jedoch sehr schwierig.
Verhärtete Fronten
Hartmann fragt, was solche Phänomene wiederum über unsere gegenwärtige Gesellschaft aussagen? „Da schließen sich auch viele pädagogische Fragen an. Wie können Pädagoginnen und Pädagogen mit diesen Fragen angemessen umgehen, wenn Kinder und Jugendliche solche Bedürfnisse äußern, bereits im Kindesalter zu glauben, sie leben im falschen Körper und wollen eine operative Veränderung?“ Diese Fragen würden gegenwärtig kaum diskutiert, vielmehr seien die die Fronten sehr verhärtet, aber ein totschweigen helfe da auch nicht weiter.
Der Lehr- und Forschungsschwerpunkt „Sexuelle Bildung“ an der Bergischen Universität entstand aus einem Projekt. Die Wuppertaler Wissenschaftlerinnen Rita Casale und Jeanette Windhäuser stellten sich die Fragen: Was bedeutet es pädagogisch? Wie können wir mit Sexualität und Geschlecht in der Schule umgehen? Wie wird eigentlich Sexualerziehung bislang erteilt? und vor allem Wie wird das in der Lehrerinnen und Lehrerbildung integriert? „Daraus entwickelte sich ein Projekt, für welches nun Konzepte entworfen werden, wie sexuelle Bildung, Sexualerziehung in der Gegenwart, ausgehend von den gesellschaftlichen Bedingungen, in denen wir leben, aussehen kann“, sagt Hartmann. Dazu sollen auch Themen, die sexuelle Bildung berühren, in der Lehrerinnen- und Lehrerbildung Eingang finden.
„Tatsache ist“, so Hartmann, „in der Schule findet kaum Sexualerziehung statt!“ Dabei sei das bereits seit 1968 ein rechtlicher, curricularer Auftrag aller Schulen und zwar fächerübergreifend. „Alle Lehrkräfte haben diesen Auftrag, in ihren Fächern Sexualerziehung zu erteilen. Wenn wir nach NRW schauen, gibt es da auch Richtlinien für die Sexualerziehung, denn Sexualerziehung bedeutet nicht nur sexuelle Aufklärung im engeren Sinne, sondern auch die Beziehungsfähigkeit von Kindern und Jugendlichen zu fördern.“
Die Frage nach der Gestaltung zwischenmenschlicher und sexueller Beziehungen rücke hier in den Fokus und gehöre im Rahmen der Sexualerziehung ins Lehrportfolio. Dazu komme das umfangreiche Thema der Geschlechterfrage „nicht nur bezogen auf sexuelle Identität, sexuelle Orientierung und Vorstellung über Geschlecht“, erklärt die Wissenschaftlerin, „sondern auch auf die gesellschaftliche Struktur unserer Geschlechterordnung.“
In den 1950er und 1960er Jahren war die Rollenverteilung von Mann und Frau klar geregelt, doch es habe seitdem eben einen enormen Wandel gegeben. Daher bestehe ein Bedarf, alte Aufgaben, wie Kindererziehung, Versorgung von Angehörigen sowie häusliche Aufgaben jedweder Art, neu zu durchdenken. „Solche Fragen müssten eigentlich in Sexuelle Bildung oder Sexualerziehung einbezogen werden, und hierfür braucht es Konzepte!“
Egal wie liberalisiert eine Lebensgemeinschaft sei, in welcher Beziehung die Menschen miteinander lebten, diese Beziehungsfragen seien geschlechtsübergreifend. „Wie wollen wir alle, wenn wir 40 Stunden arbeiten, diesen ganzen Sorgeanteil bewerkstelligen? Das betrifft Homosexuelle genauso wie Patchwork Familien. Wir müssen uns fragen, wie eine Gesellschaft das bewerkstelligen will, ohne dass ein Teil von ihr, und das waren in der Regel Frauen, abgewertet wird, weniger verdient und damit in die Altersarmut rutscht.“
In der Schule findet kaum Sexualerziehung statt
Sexualerziehung in Schulen ist ein schwieriges Thema und findet nach Hartmanns Worten auch kaum statt. Lehrkräfte würden diesen dienstlichen Auftrag oftmals gar nicht kennen, weil er zum Beispiel in der Lehrerinnen- und Lehrerbildung keine Rolle spiele. Auch scheinen die Fragen, die mit sexueller Bildung verbunden sind, Lehrkräfte oftmals zu verunsichern. „Wenn Sexualerziehung dennoch stattfindet, laden engagierte Lehrkräfte sich externe Träger ein, die Projekttage machen. Das ist sehr gut, das muss man auch befürworten, aber das, was Schule in diesem Bereich leisten soll, findet faktisch nicht statt.“
Daher scheint es umso wichtiger, nach Lösungen zu suchen, die diesen Zustand ändern. Im kommenden Jahr organisiert Hartmann an der Bergischen Universität ein Symposion mit dem Titel: „Sexuelle Bildung – Quo vadis? Feministische und geschlechtertheoretische Perspektiven auf Sexualität und Subjektbildung“. „Unser Anliegen ist es, eine Debatte zu eröffnen und auch heikle Fragen zu stellen“, erzählt sie.
Eine provokante Frage in diesem Symposion wird sich zum Beispiel um die erotische Dimension in pädagogischen Beziehungen drehen. Jeder weiß um die Verliebtheit von Schülerinnen und Schülern, kaum einer weiß, wie man damit umgeht, doch auch das ist Realität. „Wenn man heute so etwas formuliert“, gibt Hartmann zu bedenken, „tut sich schnell der Gedanke auf, ob das schon missbräuchlich ist, oder schon eine Grenzüberschreitung vorliegt. Aber es ist wichtig, solche Fragen in die Diskussion zu bringen, denn auch erotische Komponenten oder auch die Komponente von Verliebtheit in pädagogischen Beziehungen, spielen immer eine Rolle und sind notwendig für Bildungsprozesse.“
Somit hat unsere tolerante Gesellschaft noch einen weiten Weg vor sich. Wissenschaft kann dabei wichtige Impulse setzen.