Tanztheater Wuppertal Pina Bausch Nacktheit allein erzählt gar nichts
Wuppertal · Unter dem Motto „Club Amour“ hat Wuppertals neuer Tanztheater-Intendant Boris Charmatz mit dem traditionellen Zusammenspiel von „Café Müller“ und „Das Frühlingsopfer“ gebrochen.
Statt Letzterem gab es jetzt vor dem „Café“ die Charmatz-Choreographien „Aatt enen tionon“, eine phonetische Zerpflückung von „Attention“ – sowie „herses, duo“. Zwei Frühwerke des heute 50-jährigen Charmatz.
Beide Stücke, das erste 40, das zweite 20 Minuten lang, spielen sich auf der Opernhausbühne ab. Das Publikum versammelt sich stehend im Kreis um das Geschehen herum. So wie „Aatt enen tionon“ aus drei Buchstabengruppen besteht, sind (dieser Text bezieht sich auf die Aufführung am 23. November um 18.30 Uhr, es gab mehrere Termine mit wechselnden Besetzungen) Olga Dukhovnaya, Némo Flouret und Christopher Tandy auf einem dreistufigen Gerüst zu sehen.
Die Frau in mehreren Metern Höhe, die beiden Männer gestaffelt unter ihr. Sichtkontakt zwischen den dreien gibt es nicht. Zu langgezogenem, klagendem Soundmaterial sind diese drei Menschen ganz allein, fallen, stehen auf, klatschen auf ihren Boden, loten die Gefahr eines Absturzes (vor allem Olga Dukhovnaya) bewusst aus.
Und sie alle sind, was ihre Unterkörper betrifft, nackt. Warum? Hat das etwas mit Liebe, mit irgendeinem „Club Amour“, zu tun? Soll das provozieren? Was soll es überhaupt? Die körperliche Präsenz und Leistung des dreistufig agierenden Trios sind beachtlich. Aber eine Geschichte erzählt diese Choreographie nicht.
Das gelingt schon eher, wenn bei „herses, duo“ Boris Charmatz selbst und seine Partnerin Johanna Elisa Lemke (beide sind von Anfang an komplett nackt) die Vielgestaltigkeit menschlicher beziehungsweise männlich-weiblicher Annäherung miteinander ausloten. Da sind viel Intensität und bedeutende Körperbeherrschung im Spiel. Große Trauer außerdem – und die Unmöglichkeit, einander wirklich zu berühren. Bei „herses, duo“ kann man über das Unbekleidetsein vielleicht diskutieren. Einen Sinn ergibt es auch hier nicht. Es gibt fast unsichtbare Kleidungsstücke, die das Intimste eines Menschen bedecken: Mit ihnen würden die Zuschauerblicke auf die Tanzkunst konzentriert.
Was soll man sagen? Nacktheit kann als das Herunterreduzieren des Individuums auf seine letzte Verletzlichkeit interpretiert werden. Aber auch ganz anders: Wenn einem Künstler nichts mehr einfällt, wird halt blankgezogen.
Dann ist Pause bei diesem seltsamen „Club Amour“. Für „Café Müller“ von Pina Bausch, das von 1978 stammt, nimmt man wieder Platz im Opernhausgestühl.
Von dort aus sieht man 40 Minuten lang Naomi Brito, Emily Castelli, Milan Nowoitnick Kampfer, Tsai-Wei Tien sowie Reginald Lefebvre. Ihr Agieren in einem Meer von Stühlen, an Wänden und Spiegeln, zur wunderschönen Barock-Arienmusik von Henry Purcell ist ganz und gar die frühe Pina Bausch: Sehnsucht und Flucht, Nähe und Abstoßung, Tränen und Lächeln.
Jetzt, mitten in diesem schwarzen Café mit der Drehtür, und obwohl ich „Café Müller“ noch im Februar als „heute sehr sperrig wirkend“ bezeichnet habe, wird klar, warum es „Tanztheater Wuppertal Pina Bausch“ heißt: Weil Pina Bausch unverwechselbare Geschichten erzählt, weil es trotz viel Bitterkeit diese Momente der Fröhlichkeit gibt, weil hier zärtlich-leise Bilder, die lange nachwirken, entstehen. Bei großer Akrobatik und tänzerischer Präsenz.
Nackte Körper? Hier sind sie nicht nötig. Und: Der große Schlussapplaus für „Café Müller“ sprach Bände im Vergleich zum ersten Teil mit Charmatz‘ Doppel. Der neue Intendant hat mit „Liberté Cathédrale“ im September einen beeindruckenden Gong-Schlag ertönen lassen. Sein „Club Amour“ aber wäre ohne Pina Bauschs „Café Müller“ ein leeres Lokal.