Helge Lindh im Rundschau-Interview „Wenn jetzt jeder nur an sich denkt, wird das desaströs enden“

Wuppertal · Helge Lindh, Wuppertals SPD-Bundestagsabgeordneter, sitzt im Innen- und im Kulturausschuss des Deutschen Bundestages. Zurzeit ist er nicht in Berlin, sondern beantwortet von seinem (für das Publikum geschlossenen) Büro im Luisenviertel aus zahllose Mails, Anrufe und Whatsapp-Anfragen zu vielen Aspekten der Corona-Krise. Rundschau-Redakteur Stefan Seitz sprach mit Helge Lindh.

Helge Lindh, SPD-Bundestagsabgeordneter, im Interview über die Corona-Pandemie.

Foto: Christoph Busse

Rundschau: Wer wendet sich an Sie?

Lindh: Die Bandbreite aus der gesamten Bürgerschaft ist ungeheuer groß, reicht von Selbständigen, Künstlern und Gastronomen bis hin zu allen Arten von Unternehmern, beispielsweise auch Fahrschulinhabern. Es geht um die Probleme all derer, die von der Schließungsverordnung unmittelbar und existenzgefährdend betroffen sind, und um Hilfen für Arme und besonders Verletzliche.

Rundschau: Was muss jetzt passieren?

Lindh: Angesichts der unfassbaren Dynamik der Krise müssen jetzt viele Gesetze beispielsweise für Kredite und direkte Finanzhilfen sehr schnell beschlossen werden. Es reicht bis zu staatlicher Beteiligung an Konzernen als Rettungsmaßnahme. Das kann die Regierung aber nicht alleine, dazu ist auch das Parlament nötig. Weil es aber so schnell gehen muss, um ganze Branchen für die Zukunft zu retten, können auf dem bisher üblichen Gesetzgebungsweg nicht alle Feinheiten jedes Bereiches berücksichtigt werden. Die Hauptfrage ist: Wie geht es unbürokratisch, schnell und umfassend? Wir brauchen möglichst einfache Prüfungen und Antragsverfahren, denn die Unternehmen, vor allem die kleineren, müssen unmittelbar Kredite, aber auch Zuschüsse in Form von „echtem“ Geld bekommen.

Rundschau: Als eine der Hauptbetroffenen-Gruppen werden die so genannten Solo-Selbständigen genannt ...

Lindh: Zurecht. Ein Riesenteil der freien Kunst-, Kultur- und Kreativwirtschaft besteht aus ihnen. Hier muss flächendeckend geholfen werden, trotz der sehr unterschiedlichen Situationen, in denen dieser Bereich arbeitet. Ich plädiere definitiv für sofortige Nothilfe. Mit Geld, denn die Rückzahlung von Krediten wäre für diese Menschen unmöglich. Außerdem darf man dabei aus Gründen der Gerechtigkeit niemanden vergessen. Und man muss ehrlich sein: Wenn diese Krise Monate dauert, werden viele Betroffene in die Grundsicherung abrutschen. Dann muss das Parlament als Gesetzgeber die Kriterien der Vermögensanrechnung und Angemessenheit aussetzen, denn sonst droht eine Welle von Wohnungsverlusten. Die Folgen wären dramatisch.

Rundschau: Was sagen Sie zum bedingungslosen Grundeinkommen, das jetzt oft als Lösung im Gespräch ist?

Lindh: Für eine solch komplette Veränderung unseres gesamten Sozialsystems sehe ich in der Kürze der Zeit keine politische Mehrheit. Es wird auf die Zahlung von Zuschüssen hinauslaufen. Aber eines ist klar: Eine Rückkehr in die alte Normalität wird es nach der Krise nicht mehr geben. Über die Absicherung von Selbständigen & Co. muss ganz neu nachgedacht werden. Sie müssen mit hinein ins Sozialsystem. Das ist übrigens auch eine wichtige Erfahrung für die Sozialdemokratie: Es darf uns nicht allein um die Arbeitnehmer gehen, sondern auch um all diese Selbständigen, die ja keineswegs alle reiche Unternehmer sind, sondern mittlerweile einen bedeutenden Teil unserer Arbeits- und Wirtschaftswelt ausmachen.

Rundschau: Das klingt nach „Lehre aus der Krise“. Gibt es weitere?

Lindh: Der Staat ist viel wichtiger, als manche gedacht haben. Die Devise vom „schlanken“ Staat erweist sich jetzt als komplett falscher Weg. Nach dieser Devise personell heruntergeschrumpfte Verwaltungsapparate, die eigentlich schnell und effizient arbeiten müssten, sind in dieser Krise erst recht überfordert. Der „schlanke“ Staat ist viel zu langsam, ein gut ausgestatteter Staat ist wichtig, um solche Anforderungen zu meistern. Das gilt übrigens genauso auch für das Gesundheitswesen, das jetzt vor riesigen Herausforderungen steht, in der Vergangenheit aber viel zu sehr nach Kriterien der reinen Wirtschaftlichkeit behandelt und auf Rendite dressiert wurde.

Rundschau: Überall in der Stadt gibt es viele Initiativen und Zeichen der Solidarität und des Miteinanders …

Lindh: Oh ja! Die Solidarität ist überall und auf so viele verschiedene Arten präsent. Für mich zeigt das: Es kommt nicht allein auf die Technologie an, die glücklicherweise ja funktioniert, sondern viel mehr auf Kultur und Gesellschaft. Deswegen bin ich auch sehr zornig über gegen die Regeln gestürmte Bolzplätze und Partys auf der Trasse sowie ein Verhalten, das nach riesiger Urlaubsstimmung aussieht. Soziale Distanz ist jetzt sozial. Darum sage ich deutlich: Die Ausgangssperre ist ein legitimes Instrument.

Rundschau: Was Sie also kritisieren, ist ein Zuviel an Egoismus?

Lindh: Was ich immer schon kritisiere, ist die Spaltung unserer Gesellschaft. Was wir brauchen, vor allem jetzt in dieser Krise, ist genau das Gegenteil von Spaltung. Und damit genau das Gegenteil von Populismus, sprich von Rechtspopulismus. Wenn jetzt jeder nur an sich denkt, wird das desaströs enden. Ich stelle mich auch vehement gegen populistische Anschauungen, wie sie beispielsweise in Großbritannien zum Teil im Umlauf sind. Dort will man aus wirtschaftlichen Gründen möglichst wenige Maßnahmen gegen Corona ergreifen, nach der Logik, dass am Ende ohnehin die Besten und Fittesten durchkommen. Wir dagegen gehen einen ganz anderen Weg, um auch die Schwachen zu schützen. Ja, das ist wirtschaftlich riskant, aber es rettet Leben. Für mich ist das ethisches, solidarisches Verhalten und eine gesellschaftlich reife Entscheidung.