Interview: Hartz IV, Minijobs, Altersarmut und Langzeitarbeitslose Grüning: "Der Deal ist nicht fair"
Wuppertal · Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) hat in kurzem Abstand per Pressemitteilung den Finger in mehrere Wunden gelegt. Trotz Arbeit brauchen in Wuppertal 7.506 Menschen zusätzliches Hartz IV, um leben zu können.
Von diesen "Aufstockern" haben 3.094 nur einen Minijob. In Sachen Alter zeigt sich, dass immer längeren Arbeitszeiten immer niedrigere Rentenansprüche entgegenstehen. Rundschau-Redakteur Stefan Seitz sprach mit Wuppertals DGB-Chef Guido Grüning.
Rundschau: Gute Arbeit, gute Rente, Sicherheit im Alter. Ist das Vergangenheit? Was ist passiert?
Grüning: Eine ganze Reihe älterer Werte sind verloren gegangen. Zum Beispiel zählt das Thema Vollbeschäftigung nicht mehr. Wir haben uns damit abgefunden, dass etwa 2,5 Millionen Menschen dauerhaft arbeitslos bleiben. Die deutsche Wirtschaft brummt, erzielt riesige Exportüberschüsse, aber eine bestimmte Gruppe von Menschen bleibt außen vor.
Rundschau: Woher kommen diese Veränderungen im Wertesystem?
Grüning: Früher war klar: Wohlstand muss man sich erarbeiten. Heute gilt die Gleichung "erfolgreich ist, wer konsumiert." Und zwar egal, was. Wer nicht mitmachen kann bei diesem Konsum-Run, steht am Rand. In den USA gilt das schon sehr lange. Die Folgen sind bekannt. Auch in Europa hat man sich nicht darum gekümmert. Die EU war und ist vor allem darauf orientiert, wie man Geschäfte macht. Soziale Sicherungsstandards, die überall gleich verlässlich gelten, das wurde ausgeblendet.
Rundschau: Für Mittelalte und vor allem junge Leute ist die Rente keine sichere Sache mehr ...
Grüning: Ein echtes Kernthema. Dabei hätte das alles nicht so kommen müssen. Der Vorschlag der Gewerkschaften war, den Rentenbeitrag schrittweise anzuheben. Das hätte eine sichere Rente möglich gemacht, war aber politisch, auch schon zur Zeit der Schröder-Fischer-Regierung, nicht gewollt. Was wir jetzt erleben, ist für junge Menschen komplett abschreckend. Ein Wuppertaler, der 2015 in Rente gegangen ist, bekommt durchschnittlich nur noch 985 Euro im Monat, eine Frau 575. Wenn das nicht zum Leben reicht, muss diese Altersarmut dauerhaft staatlich finanziert werden. Das führt für die Menschen zum Gefühl der Entwürdigung und öffnet Tür und Tor für alle, die wie die AfD vermeintlich einfache Lösungen versprechen.
Rundschau: Wenig würdevoll wirkt auch der gesamte Hartz-IV-Sektor...
Grüning: Hartz IV ist besser als sein Ruf, und die Kolleginnen und Kollegen im Jobcenter machen viel gute Arbeit. Der Fehler liegt im System: Wenn "Fördern und Fordern" ein fairer Deal wäre, wäre es okay. Aber der Deal ist nicht fair. Man kann so viel fördern wie man will, aber es läuft ins Leere. Der "Soziale Arbeitsmarkt", für den das Land jetzt 13 Millionen Euro plus weitere 30 für 2018 bereitgestellt hat, wäre hier ein wichtiger Baustein zum Gegensteuern.
Rundschau: Was ist ein "Sozialer Arbeitsmarkt"?
Grüning: Eine Chance, Menschen, die, warum auch immer, nicht mehr in den 1. Arbeitsmarkt vermittelbar sind, eine dauerhafte Perspektive für sinnvolle Beschäftigung bei gemeinwohlorientierten Projekten zu geben. Das ständige Weitergereicht-Werden von Maßnahme zu Maßnahme wäre damit passé. Damit würde man zeigen, dass alle Menschen in unserer Gesellschaft denselben Wert haben. Das ist heute nicht der Fall.
Rundschau: Könnte es nicht sein, dass das attraktiver ist als ein Minijob?
Grüning: Die Gefahr besteht. Und darum muss der Minijob-Wildwuchs ganz deutlich reglementiert werden. Die Erfahrung zeigt, dass die Behauptung, Minijobs könnten eine Brücke in den 1. Arbeitsmarkt sein, nicht stimmt. Die Politik muss unbedingt aktiv werden, um Minijobs auf die haushaltsnahen Dienstleistungen zu reduzieren, wofür sie ja ursprünglich gedacht waren.