Aktuell im Theater am Engelsgarten Woyzeck ist Woyzeck, ist Woyzeck

Wuppertal · Jetzt vergessen wir mal alles, was wir in der Schule oder sonstwo über Büchners düsteres Fragment „Woyzeck“ gelernt haben. Das Wuppertaler Schauspiel macht (s)einen „Woyzeck“ im Engelsgarten auf eigene Weise. Das ist kein Spaziergang.

Vier im Hamsterrad ihres Schicksals: Kevin Wilke, Konstantin Rickert, Alexander Peiler und Paula Schäfer.

Foto: Björn Hickmann

Begonnen hat Büchner den „Woyzeck“ im Herbst 1836. Als er im Februar 1837 mit nur 23 Jahren starb, blieb das Manuskript unvollendet zurück. Die bittere, tieftraurige Geschichte vom einfachen Soldaten Franz Woyzeck, der mit seiner Marie ein uneheliches Kind hat und sich wegen Armut als Hauptmanns-Diener und Arzt-Versuchskaninchen verdingen muss, war damals herbe Gesellschaftskritik. Und ist es noch heute.

Dass Franz Woyzeck Marie am Ende aus Eifersucht tötet, muss nicht immer folgerichtig sein. Dass aber aus dem Hamsterrad von sozialer und finanzieller Unterprivilegiertheit kein wirkliches Entkommen ist, und genau dies menschliche Seelen zutiefst verformt: Das gilt unverändert. Überall auf der Welt.

Die wagemutige Wuppertaler Inszenierung von Peter Wallgram, die den Zuschauern viele sehr laute Passagen zumutet, lässt zurückschrecken und geht zugleich unter die Haut. Drei Männer – Kevin Wilke, Konstantin Rickert, Alexander Peiler – spielen Woyzeck, Hauptmann, Arzt. Wer gerade wer ist, lässt sich nur an der Kopfbedeckung erkennen. Sie rennen (Hamsterrad!) wie verrückt, sind leichengrimassenhaft geschminkt – und bestechen durch bedeutenden Harndrang.

Beim zynischen Von-oben-Herabschauen auf den Soldatenknecht Woyzeck ragt Kevin Wilke mit eiskalter Ausstrahlung heraus. Er ist es auch, der in österreichischem und schwäbischem Dialekt böse, kabarettartige Textpassagen liefert, bei denen das Lachen im Hals steckenbleibt. Ebenfalls, wenn Konstantin Rickert ein in das Stück montiertes (erfundenes?) Interview gibt: Wie schwer es Millionäre doch haben! Man möchte weinen. Vor Wut. Klar wird schnell: An der Welt, die wir auf dieser Bühne sehen, bleibt kein gutes Haar.

Apropos Bühne: Die hat Miriam Grimm als von einem riesigen offenen, begehbaren Herzen beherrschten düsteren Raum gestaltet. Kalt ist dieses Herz, tot.

Einzig Marie ist in dieser Inszenierung lebendig, ein echter Mensch. Paula Schäfer spielt sie großartig. Zerbrechlich, zärtlich, mutterseelenallein mit ihrem kleinen Kind. Paula Schäfer ist der Star dieses „Woyzeck“ – und das nicht etwa nur, weil sie sehr gut singt. Ihr Monolog vom Kind, das von der menschenleeren Erde hinaufgeht zum scheinbar freundlichen Mond, um dann festzustellen, dass der „nur ein Stück faul‘ Holz“ ist, markiert einen Höhepunkt dieser Achterbahn-der-Gefühle-Inszenierung.

Ein Wort noch zur Musik: Die Sounds, die Michael Mühlhaus ausgewählt hat, passen sehr gut ins Heute. Diese Klänge sind es nicht, die zu laut sind. Das Geschrei der drei Männer ist es, das immer wieder auf- und abschreckt.

90 Minuten dauert der Wuppertaler „Woyzeck“: Eine bittere Groteske ist er – und was seine knallharte Sozialkritik angeht, komplett zeitlos. Leider. Franz Woyzeck ist seelisch zerstört, keine Heilung in Sicht. Was aus ihm wird, als er Marie ermordet hat, bleibt offen. Büchners Fragment lässt viele Überlegungen zu.

Der Premierenapplaus für diese gnadenlosen anderthalb Stunden war recht dünn. Ich denke, ich habe – trotz des immer wieder zu hohen Lärmpegels – großes Theater gesehen. Es hat sich aber so angefühlt, als sei ich damit in der Minderheit.