Pina Bauschs „Macbeth“ Das Leben - ein (Liebesalb)Traum
Wuppertal · Immer noch verstörend: Pina Bauschs Macbeth-Variationen „Er nimmt sie an der Hand und führt sie in das Schloß, die anderen folgen“.
Nein, Shakespeares „Macbeth“ war es nicht, was Pina Bausch im April 1978 den Zuschauern im Bochumer Schauspielhaus als Macbeth-Projekt vorsetzte. Tanz im gewohnten Sinne, gar hübsch anzusehendes Ballett, noch viel weniger. Und trotz der Besetzung mit Tänzern, Schauspielern und einer Sängerin keineswegs das, was man als „Cross-Over-Projekt“ bezeichnen würde. Vielmehr eine radikale Absage an das konventionelle Erzähl- wie Tanztheater (einen Begriff, den Pina Bausch fortan neu definieren sollte). Zuletzt 1990 gespielt, ist das seinerzeit heftig umstrittene Stück jetzt im Opernhaus in einer Neueinstudierung zu erleben. Und es wirkt noch immer.
Schon das Bühnenbild (Rolf Borzik) hat irritierende, ja: verstörende Wirkung: Der Salon einer Villa, vollgestellt mit Möbeln, die nicht zueinander passen, Sessel und Sofas, ein Glasschrank, ein Beichtstuhl, eine Duschkabine, eine Musicbox. Der scheußlich orangerote Teppich lässt an Blut denken. Ein Wasserschlauch schlängelt sich über die Bühne, Wasser fließt unentwegt, sammelt sich in einer Art Graben an der Rampe, vom Zuschauerraum absurd vornehm abgetrennt durch eine dicke Kordel, wie man sie von Schlossbesichtigungen kennt. Kisten mit Spielzeug werden ausgekippt. Der großbürgerliche Alltag wird zum Schlachtfeld.
Zunächst ist alles Schlaf. Die neun Darstellerinnen und Darsteller liegen regungslos da, wälzen sich allmählich immer stärker hin und her, zwanghaft und wie unter Alpträumen. Später werfen sie sich in einer temporeichen Szene in hohen Sprüngen auf die Sitzmöbel. Solche abrupten, überrumpelnden Stimmungswechsel sind wie viele andere Elemente, die Pina Bausch in diesem Stück entwickelt, prägend für die großen, unbequemen Tanzabende der 1980er-Jahre, die Tanz völlig anders verstanden als zuvor, als mitunter geradezu irre Bewegungsfolgen, die aus dem Alltagsrepertoire heraus entstehen. Kleine Spiel- und Sprechszenen beherrschen die Szene.
Einst war es Mechthild Großmann mit ihrer unvergleichlichen Jahrhundertstimme, die in diesem Stück in aufreizend naiver kindlich-märchenhafter Art die Macbeth-Handlung erzählte. Jetzt übernimmt Schauspielerin Johanna Wokalek ihren Part, ohne die stimmlichen Abgründe der Großmann nachahmen zu wollen oder zu können, aber mit bestechender Bühnenpräsenz, mit provokativ femininem Beinaufschlag und frecher Koketterie. Julie Shanahan und Jonathan Fredrickson sind ein Paar, das geradezu zwanghaft Zärtlichkeiten austauscht bis hin zur Gewalt – ein Leitmotiv Pin Bauschs. Die Musikcollage von Peer Raven unterlegt dazu Verdi und Grieg mit Tangorhythmen, lässt Ennio Morricones Soundtrack zu „Spiel‘ mir das Lied vom Tod“ und die Comedian Harmonists auf Verdis Macbeth-Oper prallen.
Es gibt eine der typischen Bausch-Ensemble-Nummern über die Bühnendiagonale, nicht wirklich getanzt, sondern eine Folge von Alltagsgesten. Die Szene wird beendet, wenn Breanna O’Mara (sie spielt im Wechsel mit Stephanie Troyak) im blassrosa Kleid wie ein Engel über die andere Diagonale hereintritt, auch das eine sehr bewusst gesetzte Bruchstelle. In mehreren anderen Szenen liegt O‘Mara wie tot da, auf einem der Kinosessel, die kurz vor der Pause frontal zum Publikum an der Rampe stehen, einmal wird sie wie leblos auf einem Klavier abgelegt, vielleicht doch mehr Schwan als Engel. Und dann rufen sie und die anderen Darstellerinnen immer wieder „hilf mir fort“, um sich bewegungslos wie Puppen an einen anderen Platz tragen zu lassen.
Shakespeare kommt auch vor, angefangen beim merkwürdigen Titel – einer Szenenanweisung aus der um 1606 entstandenen Tragödie. Auch verschiedene originalen Textpassagen, aber die sind aus dem Handlungsablauf gelöst und heben einzelne Motive hervor: Den verzweifelten Versuch des Königsmörders Macbeth und seiner überehrgeizigen Gattin, das Blut und damit die Schuld von den Händen zu waschen. Auf faszinierende Weise ist es Pina Bausch gelungen, die zentralen Momente von Macht und Schuld aus dem Drama herauszudestillieren und aufzusaugen. Leicht macht sie es sich, den Darstellern und dem Publikum freilich nicht bei dreieinhalb Stunden Spieldauer, bei vielen sich wiederholenden Episoden, bei ihrem Mut zur Langsamkeit.
Am Ende sitzen Johanna Wokalek und Maik Solbach frustriert da, ein gescheitertes Ehepaar, Lord und Lady Macbeth anno 1978 oder 2019. Oleg Stepanov, der immer besser die absurd-komischen Momente verinnerlicht, tänzelt ein weiteres Mal zur banalen Musik aus der Musicbox durch den Raum. Noch einmal will Julie Shanahan von Jonathan Fredrickson geschlagen werden, und in den Ohrfeigen wie dem nachfolgenden Blick schräg über die Bühne liegt viel von der Ambivalenz aus Gewalt und Zärtlichkeit. Josephine Ann Endicott, bei der Uraufführung selbst als Darstellerin auf der Bühne, hat diese Neueinstudierung geleitet, das großartige Ensemble wird von Tsai-Wei Tien und Julian Strecker komplettiert. Und von Michael Strecker (alternierend mit Douglas Letheren), der am Ende allein zurückbleibt, ratlos in der Duschkabine sitzend. Pina Bausch hat keine Antworten gegeben auf die Unmöglichkeit des Zusammenlebens. Alles bleibt offen. Auch heute noch.