Ultrahiker aus Vohwinkel Jannik Giesen: „Mich fasziniert das Extreme“

Wuppertal · Kennen Sie den „Mount Lüntenbeck“? Nein? Kein Wunder. Den gibt es auch nicht. Wanderweltmeister Jannik Giesen aus Wuppertal hat ihn dennoch erklommen. Auf einer Halde in der Lüntenbeck hat der 35-Jährige 8.848 Höhenmeter in 17 Stunden bewältigt. Dabei ist die künstliche Aufschüttung nur 25 Meter hoch. Im Gespräch mit der Rundschau-Redaktion erklärt er uns das sogenannte „Everesting“ – und warum er es überhaupt macht.

Ultra-Wanderer Jannik Giesen hat die Halde in der Lüntenbeck für seine „Everest-Challenge“ genutzt.

Foto: privat

In der Nähe der Wuppertaler Nordbahntrasse: Tibetische Gebetsfahnen schmücken den höchsten Punkt der Halde in Lüntenbeck. Sie wehen im Wind, sind schon völlig durchnässt vom Regen. Ein kalter, ungemütlicher Tag Ende Januar. Eine durchsichtige Aufbewahrungsbox mit verschlossenem Deckel steht auf dem „Gipfel“ auf einer Betonbank. Befüllt ist sie mit Verpflegung: Wasser, eine Banane, Nüsse. Eine Stirnlampe. Und Wechselkleidung.

Letzteres wird Extremwanderer Jannik Giesen dringend brauchen. Es ist Samstag, die Uhr schlägt zur Stunde Null. Im strömenden Regen wird der junge Mann den aufgeschütteten Hügel 17 Stunden lang insgesamt 350 Mal hoch und wieder hinunter gehen. Insgesamt läuft er dabei 96 Kilometer. In all der Zeit spricht ihn niemand der vorbeilaufenden Fußgängerinnen und Fußgänger an. „Das hat mich wirklich gewundert. Denn das, was ich da gemacht habe, muss doch völlig irre ausgesehen haben“, erzählt er uns später im Interview.

17 Stunden lang lief Jannik Giesen für die „Everest-Challenge“ die Halde in der Lüntenbeck hoch und hinuter.

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Jannik Giesens Hobby ist das Wandern. Nein, es ist mehr als das. Im Gespräch mit dem Lüntenbecker stellen wir fest, dass es seine Leidenschaft ist — ein enorm großer Bestandteil seines Lebens. Seit über zehn Jahren beschäftigt er sich mit dem Bewältigen extrem langer Strecken. Er selbst bezeichnet sich auf seinem Instagram-Account (lonewolf_ultrahiking) als Ultrawanderer.

„Im Laufsport nennt man Rennen, deren Streckenlänge über die klassische Marathon-Distanz von 42 Kilometern hinausgeht, Ultraläufe. Klassische Distanzen sind dabei 50 oder 100 Kilometer. Dieser Begriff wurde irgendwann auf lange Wanderstrecken übertragen“, erklärt er.

Eine Ultrawanderung ist also ebenfalls deutlich länger als das Pensum üblicher Tagestouren, bei denen 20 bis 30 Kilometer absolviert werden. „Man wandert dabei auch schneller. Ich laufe nicht, bin aber mit einer Gehgeschwindigkeit von sieben bis neun Kilometern pro Stunde unterwegs.“

Traumkulisse in Schottland: 2015 wanderte der Wuppertaler von Köln bis zur schottischen Insel Skye.

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Den Plan, Extremsportler zu werden, hatte Jannik Giesen zu Beginn seiner Wanderkarriere nicht. Er erzählt uns, dass sich das alles eher zufällig entwickelt habe. Er sei eines Tages einfach losgegangen. „Als Kind kam ich mit meinen Eltern im Urlaub auf Korsika an einem Fernwanderweg vorbei. Wir sind da vielleicht fünf bis zehn Kilometer langgelaufen. Aber damals hatte ich schon den Gedanken, dass ich das mal irgendwann auch länger machen könnte. Mit 25 Jahren schnappte ich mir dann einfach einen Rucksack und wanderte 1.000 Kilometer in 20 Tagen. Untrainiert schleppte ich mich mit dieser viel zu schweren 20-Kilo-Tasche auf dem Rücken von Flensburg nach Flensburg um den kontinentalen Teil von Dänemark herum. Das war pure Quälerei. Das Wetter war einfach nur schlecht, mir hat alles wehgetan und ich habe alles gehasst“, erinnert er sich.

Trotz dieser Erfahrung blieb Jannik Giesen dran. Er trainierte konstant und steigerte sich immer wieder, indem er entweder mehr Kilometer lief oder Strecken in immer kürzerer Zeit bewältigte. Warum? „Ich habe keine Antwort darauf, die der Sache gerecht wird. Mich fasziniert das Extreme. Ich suche es regelrecht.“

Seine Grenzen hat der Ultramarschierer schon oft ausgetestet. Im Jahr 2019 lief Jannik Giesen 3.000 Kilometer zu Fuß von Wuppertal bis nach St. Petersburg. Dabei durchquerte er eine 90 Kilometer lange Sperrzone zwischen Estland und Russland, durch die er nicht hätte wandern dürfen. „Ich kam da irgendwie an einem Atomkraftwerk vorbei, da nahm mich die Polizei mit und brachte mich ins Gewahrsam. Das war schön verrückt.“

Einmal mehr am Ziel.

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2015 wanderte er von Köln bis zur Insel Skye in Schottland, 2017 von Venedig nach Köln – und überquerte dabei die Alpen. Im Jahr 2022 sicherte er sich den Titel Wanderweltmeister, indem er in knapp unter 24 Stunden den 170 Kilometer langen Rennsteig in Thüringen ablief.

Giesen betont, dass das Ultrawandern bislang ein Hobby sei. Im „echten“ Leben ist er bei der Deutschen Bahn als Projektleiter tätig. Seine Touren unternimmt er während seines Urlaubs, an Wochenenden, damals zwischen Jobwechseln oder während der Semesterferien. Trotz einer Arbeitszeit von 40 Wochenstunden ist er an fünf von sieben Tagen lange zu Fuß unterwegs. „Meist laufe ich vor der Arbeit von 6 bis 8.30 Uhr meine 20 Kilometer. Und am Wochenende mache ich längere Strecken.“

Und die absolviert er zurzeit nicht in der Ferne. Er läuft einfach von seinem Zuhause in der Lüntenbeck los. Die Idee, die Halde vor seiner Haustür zur Herausforderung zu machen, kam ihm ganz spontan. „Ich schaute aus dem Fenster und überlegte, wie ich erneut an meine Grenzen gehen könnte. Da kam mir die Idee des ‚Everestings‘. Wie der Name es schon erahnen lässt, bezieht sich diese Challenge auf den Mount Everest im Himalaya. Dabei läuft man eine Strecke so oft rauf und runter, bis man 8.848 Höhenmeter – die Höhe des höchsten Berges der Erde – erreicht hat.“

Und dann findet Jannik Giesen doch noch gute Gründe dafür, warum er seinen Körper solchen Extremen aussetzt. „Es verändert einfach den Blick aufs Leben, wenn man seine Füße als Verkehrsmittel nutzt. Ich bin dann voll im Moment. Es fühlt sich an wie ein Erlebnis im Reagenzglas. Man ist so sehr bei sich selbst. Unterwegs passieren seltsame Dinge, man lernt so viele Menschen kennen. Diese ganzen Eindrücke. Nicht nur der Körper wird beansprucht, auch mental ist man extrem gefordert, kommt an seine Grenzen. Solche Strecken zu bewältigen ist in jeder Hinsicht echte Knochenarbeit.“