Kein Hauptverfahren in Wuppertal „Stutthof-Prozess“: 96-Jähriger verhandlungsunfähig
Wuppertal · Die 3. große Strafkammer als 1. Jugendkammer des Wuppertaler Landgerichts Wuppertal hat im so genannten „Stutthof-Prozess“ am Mittwoch (10. März 2021) die Eröffnung des Hauptverfahrens gegen einen 96-jährigen Wuppertaler abgelehnt. Grund ist eine dauerhafte Verhandlungsunfähigkeit. Er muss aber die ihm im Verfahren entstandenen Auslagen selbst tragen.
Die Staatsanwaltschaft hatte dem Angeschuldigten vorgeworfen, als Heranwachsender Beihilfe zum Mord in mehreren hundert tateinheitlich zusammentreffenden Fällen geleistet zu haben, während er ab Ende Juni 1944 und bis zum 8. Mai 1945 dem SS-Totenkopfsturmbann Stutthof zugeteilt gewesen sei und im dortigen Konzentrationslager Wachaufgaben übernommen habe.
Die als Zentralstelle im Lande Nordrhein-Westfalen für die Bearbeitung von nationalsozialistischen Massenverbrechen zuständige Staatsanwaltschaft Dortmund hatte gegen den Angeschuldigten sowie eine weitere, im Kreis Borken wohnhafte Person zunächst Anklage vor dem Landgericht Münster erhoben. Während das dortige Landgericht die Anklage gegen den Mitangeschuldigten zugelassen und das Hauptverfahren eröffnet hatte, hatte es das Verfahren gegen den Wuppertaler abgetrennt und die Entscheidung zurückgestellt, da dieser im Hinblick auf eine mögliche Verhandlungsunfähigkeit weiter begutachtet werden sollte. Mit Beschluss vom 29. März 2019 hat das Landgericht Münster das bei ihm anhängige Verfahren gegen den Borkener Angeschuldigten endgültig eingestellt, nachdem sich zwischenzeitlich eine dauerhafte Verhandlungsunfähigkeit des Angeklagten ergeben hatte und damit ein gesetzliches Verfahrenshindernis bestand.
Die Wuppertaler Kammer hat nun die Eröffnung des Hauptverfahrens aus Rechtsgründen abgelehnt, weil der Angeschuldigte nach ihrer Überzeugung auf Grund seines Gesundheitszustandes dauerhaft verhandlungsunfähig ist. Er sei auf Grund seines körperlichen Zustandes nicht mehr in der Lage, in und außerhalb der Verhandlung seine Interessen vernünftig wahrzunehmen, die Verteidigung in verständiger und verständlicher Weise zu führen sowie Prozesserklärungen abzugeben oder entgegenzunehmen. Die Kammer folgte damit den Feststellungen und der Beurteilung eines medizinischen Sachverständigen, der sein abschließendes Gutachten neben den von ihm selbst gewonnenen Erkenntnissen auch auf verschiedenste fachärztliche Beiträge und Stellungnahmen stützt.
„Nach der mit dem Gutachten übereinstimmenden Auffassung der Kammer ist auf Grund von Art und Intensität der Beeinträchtigungen des Angeschuldigten weder die Durchführung einer Hauptverhandlung in angepasster Form – etwa durch eine Beschränkung der täglichen bzw. wöchentlichen Verhandlungszeit oder durch Hinzuziehung von Hilfsmitteln – möglich noch eine zukünftige Verbesserung des Gesundheitszustandes zu erwarten“, so das Landgericht.
Die Kammer hat jedoch davon abgesehen, die dem Angeschuldigten im laufenden Verfahren entstandenen notwendigen Auslagen der Staatskasse aufzuerlegen, was der gesetzliche Regelfall wäre. Sie stützt sich dabei auf die Vorschrift des § 467 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 der Strafprozessordnung (StPO), nach welcher eine solche Kostenüberbürdung unterbleiben kann, wenn der Angeschuldigte wegen einer Straftat nur deshalb nicht verurteilt wird, weil ein Verfahrenshindernis besteht. Dies ist nach der von der Kammer gewonnenen Überzeugung der Fall, wobei sie in ihrer Entscheidung ausdrücklich darauf hinweist, dass dies keine echte gerichtliche Schuldfeststellung impliziere, die vor dem Hintergrund der fortbestehenden Unschuldsvermutung allein nach Durchführung der Hauptverhandlung getroffen werden könne und zu der sie folglich im Zwischenverfahren weder befugt noch in der Lage sei. Allerdings sei es im Rahmen der zu treffenden Kostenentscheidung ausreichend, dass zum Zeitpunkt des Eintritts des Verfahrenshindernisses ein erheblicher Tatverdacht bestehe.
Nach Auffassung der Kammer besteht nach Aktenlage indes ein ganz erheblicher Tatverdacht im Hinblick auf die dem Angeschuldigten vorgeworfene Beihilfe zum Mord in mehreren hundert tateinheitlich zusammentreffenden Fällen.
Dabei erachtet sie die Existenz und den Betrieb des Konzentrationslagers Stutthof sowie die dort begangenen Morde in Gestalt gezielter Tötungsaktionen sowie durch die willentliche Herbeiführung oder das Bestehenlassen auf die Vernichtung menschlichen Lebens gerichteter Lebensumstände als größtenteils historische Fakten, welche in der Vergangenheit bereits mehrfach Gegenstand gerichtlicher Verfahren gewesen und rechtskräftig festgestellt worden seien. Hierzu würden unter anderem die massenhafte Tötung von Häftlingen durch den Einsatz des Giftgases Zyklon-B in der im Lager vorhandenen Gaskammer sowie in einem präparierten Waggon einer Schmalspurbahn ebenso wie Erschießungen mittels einer „Genickschussanlage“ oder das tödliche Injizieren von Benzin oder Phenol unmittelbar in das Herz von selektierten und in den Krankenblock des Lagers verbrachten Häftlingen und nicht zuletzt die besonders lebensfeindlichen Bedingungen, denen die Häftlinge bewusst ausgesetzt wurden und die sich vor allem zum Ende der Tatzeit hin nochmals dramatisch verschlechterten, gehören.
Aus der Aktenlage sowie auf Grundlage eines eingeholten historischen Sachverständigen-Gutachtens lasse sich der erhebliche Tatverdacht ableiten, dass der Angeschuldigte zwischen Ende Juni 1944 und jedenfalls Ende April 1945 als SS-Wachmann im Konzentrationslager Stutthof tätig gewesen sei und seinen Wachdienst dort jedenfalls rollierend in der Postenkette um das Lager und bei der Absicherung fortlaufend im Lager eintreffender Häftlingstransporte, als Torposten, bei der Bewachung von Arbeitskommandos und gegebenenfalls auch (was in der Hauptverhandlung zu klären gewesen wäre) auf den Wachtürmen versehen habe. Gleiches würde für seinen Einsatz als Begleiter bei einem Vernichtungstransport gelten, der das Lager Stutthof in Richtung Auschwitz-Birkenau am 10. September 1944 mit 598 Menschen, von denen dort später 596 in Gaskammern ermordet worden sein sollen, verlassen habe.
Ausweislich einer namentlichen Meldung soll der Angeschuldigte einer von elf Männern seiner Einheit gewesen sein, die für die Bewachung des Transports abgestellt worden seien. Diese dem Angeschuldigten zur Last gelegten Tätigkeiten hätten zunächst rein tatsächlich zur Absicherung des Lagerbetriebes beigetragen, indem etwa Häftlinge bereits beim Anblick des Angeschuldigten als Teil der Postenkette, der Bewachung des Zugangs zum Lager oder beim Arbeitseinsatz sich nicht getraut hätten, einen Gedanken an Flucht zu fassen und durch ihren Verbleib im Lager dem verübten Massenmord zum Opfer gefallen seien.
Diese Handlungen hätten aber nicht nur rein tatsächlich die Aufrechterhaltung des Lagerbetriebs und die dort verübten Verbrechen gefördert, sondern auch in Gestalt einer psychischen Beihilfe dazu geführt, dass sich die Lagerleitung der Unterstützung, des Gehorsams und der Verfügbarkeit der SS-Wachmänner habe bewusst sein können und in der (zutreffenden) Vorstellung bestärkt worden sei, dass die bestehende und von der Lagerleitung für das Konzentrationslager Stutthof umgesetzte Befehlslage durch den Einsatz der Wachmänner „erfolgreich" zur Ausführung habe gebracht werden können.
Nach Auffassung der Kammer sei auch mit hoher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass der Angeschuldigte die Tragweite und Dimension des im Konzentrationslager Stutthof verübten Massenmordes hinreichend konkret erkannt und gewusst habe, dass er durch seine eigene Mitwirkung im Wachdienst die von anderen verübten grausamen und teilweise heimtückisch begangenen Mordtaten förderte. Diese hätten ihm während seiner zehnmonatigen Dienstzeit im Lager nicht verborgen bleiben können.
Gegen den erlassenen Beschluss steht der Staatsanwaltschaft und den zugelassenen 24 Nebenklägern und im Hinblick auf die Auslagenentscheidung auch dem Angeschuldigten das Rechtsmittel der sofortigen Beschwerde zu, welches binnen einer Frist von einer Woche ab Bekanntgabe der Entscheidung einzulegen wäre und über welches das Oberlandesgericht Düsseldorf zu befinden hätte.