Die malende Klofrau in der Historischen Stadthalle Erst ein Foto, dann ein Bild
Wuppertal · Dass Irmgard Jäschke über 20 Jahre ihres Lebens auf dem Klo verbringen würde, hätte sie selbst nicht gedacht. Einige Wuppertaler erinnern sich vielleicht noch an sie — die malende Toilettenfrau aus der Stadthalle.
"Ich lese Ihnen ein Gedicht vor, zur Einstimmung", sagt Irmgard Jäschke, eine Mappe voller beschriebener Blätter auf dem Schoß. Und dann liest sie: "Der Konzertbesuch in der Stadthalle: Man diskutiert, man steht zusammen, entzündet sich am eigenen Wort — Beethoven heut, die Herzen flammen. Die Halle strahlt, welch schöner Ort."
Die Worte stammen von ihr, wie alle anderen Gedichte in der Mappe. Irmgard Jäschke schmunzelt: "Das traut man einer Toilettenfrau nicht zu", sagt sie. Das nämlich war Irmgard Jäschke — Toilettenfrau auf der Damentoilette in der Historischen Stadthalle. Gedichtet hat sie auf der Toilette nicht, dafür aber gemalt. Bunte Fantasiebilder mit Wasserfarben, die Köpfe der Konzertbesucher mit Bleistift. Der eine oder andere Wuppertaler wird sich sicher noch an sie erinnern.
Johannes Rau zum Beispiel — den malte sie nicht nur ein Mal. In ihrer großen Zeichenmappe finden sich gleich drei Porträts des ehemaligen Bundespräsidenten und Wuppertaler Oberbürgermeisters. Alle von Rau höchstpersönlich signiert. "In der Pause kam er immer aufs Damenklo, um nach seinen Bildern zu sehen", erinnert sich Jäschke. Und er war nicht der einzige männliche Besucher, der seinen Kopf diskret in den für Frauen reservierten WC-Raum steckte. "Die Männer kamen oft zu mir und fragten, ob ich sie malen könnte. Die Frauen wollten das weniger." In den kurzen Pausen der Konzerte schoss Jäschke schnell ein Foto von ihrem Modell, auf der Toilette fertigte sie dann in Ruhe ihre Zeichnung an.
Mit einer Karriere als malende Toilettenfrau hatte Irmgard Jäschke nicht gerechnet. Ursprünglich kommt die mittlerweile 85-jährige aus Niedersachsen — "dort, wo die schönen Mädchen wachsen". Nach dem Abitur begann sie eine landwirtschaftliche Ausbildung, doch dabei blieb es nicht. Das Schicksal führte das Ehepaar nach Wuppertal: Ehemann Reinhard Jäschke als Verwalter in die Historischen Stadthalle und Irmgard Jäschke aufs Damenklo. "So lief es auch bei unseren Vorgängern", erklärt Jäschke ihre Zeit auf dem WC. "Die Frau des Verwalters kümmerte sich während der Veranstaltungen um die Toilette." Anfangs, das gibt sie zu, tat sie sich recht schwer damit. "Ich habe Abitur und plötzlich säuberte ich Toilettensitze. Das hat mich Überwindung gekostet." Trotzdem, sagt sie, hat sie es sich schön gemacht. Denn dass die Arbeit Freude macht, ist für die 85-Jährige das Wichtigste. "Und es hat Freude gemacht."
Über 20 Jahre lang lebten Irmgard und Reinhard Jäschke mit ihren vier Kindern hinter den verschnörkelten Mauern der historischen Halle, in einer Wohnung direkt über dem Mahler- und Hindemith-Saal. Ihre Eingangstür war das Hauptportal — zumindest, wenn Besuch kam. Einkäufe wurden über die Hintertreppe getragen. "76 Stufen waren es bis in die Wohnung ", erinnert sich Jäschke. Drei feste Mitarbeiter wurden dem Verwalter zur Seite gestellt. Die wichtigsten Aufgaben aber übernahm Reinhard Jäschke persönlich. Und auch die Kinder halfen mit. Wenn das Taschengeld knapp wurde, standen sie zu Konzertanfängen an den Eingängen, schlossen pünktlich die Türen und zogen die Vorhänge zu.
Und ab und zu kam es vor — das darf Irmgard Jäschke aber eigentlich niemandem erzählen — dass die Kinder, wenn niemand mehr in der Stadthalle war, mit ihren Fahrrädern im Wandelsaal herumfuhren.
Seit Familie Jäschke kurz vor der Renovierung im Jahr 1995 aus der Historischen Stadthalle aus- und an die Sonnborner Straße umgezogen ist, war Irmgard Jäschke nicht mehr auf dem Johannisberg. "Es tut mir weh", sagt sie. "Dann muss ich weinen." Deshalb bleibt sie seitdem fort.
Info: Drei Hausmeister sind heutzutage im Schichtdienst in der Historischen Stadthalle angestellt. Einen Verwalter, wie Reinhard Jäschke es war, gibt es nicht mehr. In der früheren Wohnung der Familie Jäschke befinden sich jetzt Büros. Gewohnt hat die Familie an der Ostseite — über dem Offenbachsaal im Erdgeschoss und dem Malersaal und dem Hindemith-Saal in der ersten Etage.