Rundschau-Serie „Ecken neu entdecken“ Ein Viertel für „Pioniere und Entdecker“
Wuppertal · Die Marienstraße ist die Hauptschlagader, der Schusterplatz das Herz. Von welchem Viertel sprechen wir? Na klar, vom Ölberg! Eingeladen im Rahmen unserer Serie „Ecken neu entdecken“ haben uns Michelle Schüler-Holdstein und Klaus Lüdemann, seit 12 und 25 Jahren echte Ölberger.
Anknüpfen mit unserem Besuch wollte Klaus Lüdemann eigentlich direkt an unseren Spaziergang im Briller Viertel. Denn das Haus in der Marienstraße, in dem Lüdemann seit 25 Jahren wohnt, wurde 1903 von der Familie Wolff erbaut, Inhaber der Seidenweberei C.D. Wolff. Gustav Wolff wirkte daran mit, 1874 die Mauer zu errichten, die heute die Marienstraße von der Ottenbrucher Straße trennt. Seine Initialien, die seiner Frau und die Jahreszahl des Mauerbaus ließ er eingravieren, allerdings in rund zwei Metern Höhe, weshalb der ein oder andere Ölberger mit Sicherheit schon Dutzende Male blind daran vorbeigelaufen ist.
In Lüdemanns Garten treffen wir Michelle Schüler-Holdstein, Aufsichtsrätin der Ölberg eG und Mieterin in einem der zwei Genossenschafts-Häuser. Sie wohnt seit 2008 auf dem Ölberg, ihre neunjährige Tochter Anastasia ist im Quartier groß geworden. „Der Ölberg ist zwar nicht meine Heimat, aber er ist ein Zuhause geworden“, sagt sie. Lüdemann und Schüler-Holdstein wollen für das Ölberg-Gefühl die Marienstraße entlangschlendern, die Hautschlagader des Viertels. Wir starten an der Ottenbrucher Straße und steuern, vorbei am Weinladen „Est Est Est“, in dem früher eine Drogerie war, auf direktem Wege auf den Schusterplatz zu. Links die Grundschule Marienstraße, rechts das Lutherstift und in der Mitte Spielplatz, Wiesenfläche, Bänke. „Ein Mehrgenerationenplatz“, erklärt Michelle Schüler-Holdstein. „Hier wachsen unsere Kinder auf, hier treffen sich die Nachbarn.“ Regelmäßig organisiert „die Monique“ einen Flohmarkt. „Und eigentlich sitzt sie auch immer hier auf der Bank“, ergänzt Lüdemann. Nur heute nicht. „Die Monique“ ist Monique Kerwarth, die Patin des Ölberg-Spielplatzes.
Direkt nebenan: Die „mobilstation“ des Ölbergs, eine Fahrradgarage, eine Carsharing-Station, ein Taxi-Stand, eine Fahrrad-Abstellanlage, eine Bushaltestelle – ein Gesamtpaket, der ganze Stolz der Initiative „Mobiler Ölberg“. „Das ist einmalig, andere Stadtteile schauen neidisch darauf.“v20 Meter weiter findet alle zwei Wochen ein Markt auf dem Otto-Böhne-Platz statt. Ansonsten knubbeln sich in dieser Ecke die Eisdiele „Creme Eis“, ein Imbiss, eine Kneipe und, weiße Schrift auf schwarzem Schild, der Lale-Kiosk. Hier kauft der Ölberg Süßkram und Bier, hier werden Botschaften übermittelt. Und als Michelle Schüler-Holdstein mit ihrer Tochter schwanger war, strickte „die Lale-Frau“ dem Nachwuchs eine Jacke.
Die Marienstraße ist fast so belebt wie in der Elberfelder Innenstadt. Kinder, Nachbarn, alte Menschen, junge Menschen, alle drei Sekunden werden unsere Stadtteilführer gegrüßt, wechseln ein paar Worte mit diesem und jenem. Auf der Marienstraße stauen sich zeitweise die Autos. Michelle Schüler-Holdstein schüttelt darüber den Kopf. „Ich genieße es, wenn zum Ölbergfest die Straßen gesperrt werden und alle Autos verschwinden. Das gibt einen ganz neuen Blick auf das Viertel.“
Weiter in Richtung Hochstraße bleiben wir vor einem der zwei Häuser stehen, die der Ölberg-Genossenschaft gehören. Hier wohnt Michelle Schüler-Holdstein mit Mann und Tochter Anastasia. Was hat es für Vorteile, in einem Genossenschafts-Haus zu wohnen? „Es gibt mir Sicherheit“, sagt sie. „Ich fühle mich nicht bedroht von Gentrifizierung, wir haben faire Mieten und einen Ansprechpartner vor Ort.“ Relativ neu ist ein kleiner Supermarkt im Quartier, gibt es Cafés, Restaurants, kleine Manufakturen und einen Fahrradladen. Wer auf dem Ölberg wohnt, ist bedient. „Im Hayat, bei Mehmet, da trifft man sich“, sagt Lüdemann und blickt links in die Seitenstraße. Michelle Schüler-Holdstein isst mit Tochter Anastasia lieber Pasta im „Sugo“: „Die kennen sogar schon unsere Vorlieben.“
Um 1971 herum, erzählt Lüdemann, wurde darüber diskutiert, den Ölberg „plattzumachen“ und Hochhäuser zu errichten. „Zu der Zeit hatten 75 Prozent der Wohnungen keine Toilette in der Wohnung. 94 Prozent wurden per Ofenheizung warm gehalten.“ Zum Glück hat man das Viertel mit seinen stuckverzierten Fassaden dann doch so belassen, wie es war, und nach und nach die Toiletten in die Wohnungen verlegt. Heute ist der Ölberg bunt, dynamisch, multikulturell, ein Viertel für „Pioniere und Entdecker“, wie Lüdemann sagt. Wem der ganze Trubel dann doch mal zu viel wird, dem empfiehlt Schüler-Holdstein die Friedhöfe rund um die Hochstraße. „Ein schöner Kontrast zu dem belebten Viertel“, verspricht sie. Und wer die Augen aufmacht, der entdeckt sogar das Grab des ein oder anderen Prominenten. Von Carl Fuhlrott zum Beispiel, dem Entdecker des Neandertalers, der liegt nämlich auf dem katholischen Friedhof, der streng genommen sogar schon zum Mirker Quartier gehört.