Interview mit Wolf-Tilman Baumert (Staatsanwaltschaft) "Die Ermittlungsakte hatte über 8.000 Blatt"

Wuppertal · Vor einem Jahr hatten die Handschellen geklickt. Damals war ein SEK der Zollbehörde zur Razzia angerückt, verhaftet wurden fünf Männer und eine Frau. Der Einsatz galt als größter Schlag gegen die organisierte Schwarzarbeit in NRW — auch in Heckinghausen war eine Baufirma durchsucht worden.

Wolf-Tilman Baumert ist Sprecher der Wuppertaler Staatsanwaltschaft.

Foto: Maguire

Vorwurf der Staatsanwaltschaft: Die Angeschuldigten sollen jahrelang ein Scheinfirmengeflecht im Baugewerbe unterhalten und so Steuern und Sozialversicherungsbeiträge in zweistelliger Millionenhöhe hinterzogen haben. Nun wurden sie aus der Untersuchungshaft entlassen. Rundschau-Mitarbeiterin Sabine Maguire fragte Wolf-Tilman Baumert, den Sprecher der Wuppertaler Staatsanwaltschaft.

Rundschau: Nach einem Jahr haben Sie fünf Männer und eine Frau aus der Untersuchungshaft entlassen. Wie konnte das passieren?

Baumert: Da muss ich erst mal eines klarstellen: Nicht die Staatsanwaltschaft hat die Angeschuldigten auf freien Fuß gesetzt, sondern das Landgericht. Sobald, wie in diesem Fall geschehen, die Anklage erhoben wurde, entscheidet das Gericht über die Haftentlassung.

Rundschau: Mit welcher Begründung?

Baumert: Die 6. Große Strafkammer hat die Täterschaft der sechs Angeschuldigten nicht in Zweifel gezogen. Die Kammer hat allerdings die Feststellung des eingetretenen Schadens nicht als ausreichend für eine spätere Verurteilung angesehen.

Rundschau: Wurden Sie über diese Haftentlassung informiert?

Baumert: Nein, wir haben erst später davon erfahren. Die Strafkammer hat einen Nichteröffnungsbeschluss erlassen und die Aufhebung der Haftbefehle veranlasst.

Rundschau: Und die Angeschuldigten sind jetzt über alle Berge und haben dazu noch Anspruch auf Entschädigungszahlungen für die verbüßte Haftzeit?

Baumert: Sollte es bei dieser Entscheidung bleiben, müsste ein Entschädigungsanspruch geprüft werden. Wie haben allerdings beim Oberlandesgericht in Düsseldorf sowohl Beschwerde gegen die Nichteröffnung des Verfahrens und auch gegen die Aufhebung der Haftbefehle eingelegt.

Rundschau: Muss das Oberlandesgericht nicht ohnehin nach einer gewissen Zeit prüfen, ob die Untersuchungshaft aufrechterhalten werden kann und soll?

Baumert: Ja, nach sechs Monaten in Untersuchungshaft wird genau das regelmäßig geprüft. Noch vor wenigen Wochen war die Akte, zusammen mit der erhobenen Anklage, zur erneuten Prüfung dort. Gründe für eine Haftentlassung hat das OLG nicht gesehen.

Rundschau: Die Angeschuldigten kommen aus Serbien, dem Kosovo, der Ukraine und aus Israel. Sie dürften Deutschland längst verlassen haben, wie wollen Sie sie jemals wieder aufgreifen?

Baumert: Als wir sie vor einem Jahr verhaftet haben, lebten sie hier in der Gegend und wussten nicht, dass wir ihnen auf den Fersen waren. Das ist jetzt natürlich anders. Würden wir mit unserer Beschwerde erfolgreich sein, hätten wir auch wieder die zuvor durch das Landgericht aufgehobenen Haftbefehle. Wir würden dann natürlich wieder versuchen, die Angeschuldigten aufzuspüren und in Untersuchungshaft zu bringen.

Rundschau: Wie kann es sein, dass dem Gericht die Beweislage nicht reicht, obwohl man bereits vor Jahren erste Hinweise auf das Scheinfirmengeflecht bekommen hatte und die Ermittlungen länger als ein Jahr liefen?

Baumert: Aufgefallen waren die Machenschaften schon 2015. Damals kam von der Staatsanwaltschaft Köln im Zusammenhang mit einem dort anhängigen Fall ein Tipp auf Verbindungen hier in die Region. Auch der Zoll hat uns diesbezüglich angesprochen.

Rundschau: Wie lief es danach weiter?

Baumert: Nachdem dieser Anfangsverdacht entstanden war, haben wir ein Verfahren eingeleitet, um die Ermittlungen aufnehmen zu können. Es gab Durchsuchungen bei den Scheinfirmen und auch bei den Unternehmen, die von dort Rechnungen angekauft hatten. Es wurden Zeugen vernommen, der durch Steuerhinterziehung und nicht gezahlte Sozialversicherungsbeiträge entstandene Schaden wurde auf etwa 36 Millionen Euro geschätzt.

Rundschau: Und das reichte dem Landgericht nicht aus, um das Verfahren eröffnen zu können?

Baumert: Nein, der Kammer genügte die Schätzung nicht, obwohl das bei derartigen Straftatbeständen durchaus üblich ist. Solche Firmen führen keine genaue Buchhaltung, in der hinterzogene Steuern und nicht abgeführte Sozialversicherungsbeiträge genau aufgelistet sind.

Rundschau: Von der Strafkammer war zu hören, dass man Sie auf die mangelnde Beweislage hingewiesen habe ...

Baumert: Wir haben eine E-Mail bekommen, in der das erörtert wurde. Darauf haben wir substanziell geantwortet und mitgeteilt, warum wir die Schäden geschätzt haben und dies im vorliegenden Fall auch geboten war. Hätte das Landgericht konkrete Ermittlungsmaßnahmen erbeten, hätten wir diese durchgeführt. Unserer Auffassung nach war der Sachverhalt allerdings ausermittelt.

Rundschau: Was hatten Sie denn der Kammer vorgelegt?

Baumert: Die Ermittlungsakte hatte bereits über 8.000 Blatt, zudem haben wir dem Gericht zusätzlich zu der Akte 33 Umzugskartons mit unseren Ermittlungsergebnissen vorgelegt. Die Einschätzung des Gerichts, wir hätten vorschnell auf eine Schadensschätzung zurückgegriffen und mögliche Ermittlungsschritte unterlassen, können wir nicht nachvollziehen.