Bergische Uni Dem Gedrängel auf der Spur

Wuppertal · Der Wuppertaler Physiker Prof. Dr. Armin Seyfried untersucht in seinem Lehr- und Forschungsgebiet Computersimulation für Brandschutz und Fußgängerverkehr die komplexe Dynamik von Fußgängerströmen. In den „Bergischen Transfergeschichten“ berichtet er über diese ganz spezielle Art der Stauforschung.

WR Prof. Dr. Armin Seyfried.

Foto: UniService Transfer

Wer kennt das nicht: Man hat eine Reise geplant und steht nun in der überfüllten Bahnhofshalle – umgeben von zahlreichen Menschen, die vor, hinter und um einen herumlaufen – auf der Suche nach einer Fahrkarte, einer Zeitschrift, einem Snack, einer Auskunft oder dem richtigen Gleis. Zu Stoßzeiten kann das zu einer Tour de Force werden, die sich am Gleis durch zusätzliche Ein- und Aussteigende noch einmal steigert.

Diese Stauungen treten sowohl im öffentlichen Nah- und Fernverkehr auf, als auch bei Großveranstaltungen, wo es darum geht, in relativ kurzer Zeit, mehrere tausend Menschen sicher zu einem Veranstaltungsort zu leiten. „Wenn wir zum Beispiel eine Veranstaltung organisieren wollen, bei der 10.000 Personen kommen, dann muss man gucken, wie man die in den Veranstaltungsraum hinein- und wieder herausbekommt. Die Frage, die sich dann stellt ist: Wann kommt es zu einem Stau? Wir entwickeln Methoden, dieses System oder diesen Stau vorhersagen und abschätzen zu können, wie lange die Einlasszeiten sind.“ Zwar gäbe es schon diverse Erfahrungswerte, „doch die Loveparade in Duisburg hat uns schmerzlich verdeutlicht, dass unser bisheriges Wissen nicht ausreicht.“ Die aktuellen Forschungen auf diesem Gebiet seien weltweit minimal, stellt Seyfried fest, es gebe nur eine handverlesene Auswahl von Forscherinnen und Forschern, die sich damit beschäftigen, „und die bisherigen Ergebnisse,“, sagt er, „sind unglaublich diffus und in keiner Weise einheitlich. Da ist noch unheimlich viel zu tun.“

Durch die Pandemie rücken Massenveranstaltungen augenblicklich in den Hintergrund, doch auch im städtischen Bereich spielen Sicherheitsvorkehrungen im Fußgängerverkehr eine wichtige Rolle. Zwar sei der öffentliche Nahverkehr durch viele im Homeoffice arbeitende Menschen nicht so belastet wie vor Corona, doch man müsse konstatieren, dass die Bahnhöfe bis März dieses Jahres stellenweise vollständig überlastet gewesen seien. Und das gelte auch für den Hauptbahnhof in Wuppertal. „Wenn der Bahnhof wirklich unter Volllast fährt und dann solche Bauarbeiten hat, wie sie jetzt momentan anstehen, mit dem Tunnel als zentrales Element, dann kann man sich schon denken, was Stau im Normalfall bedeutet. Wenn man sich dann aktuell noch unseren Bahnsteig fünf ansieht, der lediglich über die Treppe nach oben erreichbar ist und überlegt, welche Konsequenz das Erreichen des Gleises zu Stoßzeiten vor Corona gehabt hätte, dann hat das Leiten von Fußgängerströmen schon eine sehr wichtige Funktion.“

Experiment mit 1000 Probanden

Ausschlaggebend für das größte Experiment, das Seyfried mit seinem Team gemacht hat, war der schon genannte Loveparade-Vorfall. Dazu Seyfried: „Eines von vielen Problemen bei der Loveparade war die Stelle, in der die Floats an dieser Rampe entlangfuhren, wo Besucher kamen und gingen und die Floats querten. Man hatte so einen Kreuzungsverkehr oder Kreuzungsstrom, in dem Fußgänger von allen Richtungen kamen. Und dazu wusste man gar nichts.“

In Kooperation mit dem Forschungszentrum Jülich stellte sein Lehr- und Forschungsgebiet in den Messehallen in Düsseldorf mit 1000 Probandinnen und Probanden einen Kreuzungsstrom nach. Unter der Beteiligung von 50 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern sowie Helferinnen und Helfern, mit einem Netzwerk von 24 Kameras wurde das Experiment an fünf Tagen unter verschiedenen Bedingungen aufgezeichnet, um herauszufinden, wann es zu einem Stau kommt. Da es keine Standards gibt, nach denen man vorgehen kann, entwickelt Seyfried mit seinem Team auch neue Auswertungsmethoden. „Die Auswertung läuft noch heute und wir lernen immer wieder dazu, weil es ein kompliziertes System ist. Jedes Bild musste aneinandergeklebt und ausgewertet werden. Das ist schon ein Aufwand!“

In Wuppertal experimentierte Seyfried gemeinsam mit Dr. Anna Sieben von der Ruhr-Universität Bochum zum Verhalten von Menschen, die in einem Stau vor einem Einlass stehen, erstmals unter einer neuen Fragestellung. „Wir haben zum ersten Mal Experimente mit einer Sozialpsychologin durchgeführt. Wir als Verkehrsforscher sind ja eher an den Fakten interessiert, also wieviel Platz und Freiraum der Fußgänger braucht sowie dessen bestimmte Geschwindigkeit. Aber Fußgänger zeichnen sich natürlich auch durch ein unterschiedliches Verhalten aus.“ Die Frage „Wenn wir in einem Stau vor einem Einlass stehen, wann fangen wir an zu drängeln?“ ist dabei eine ganz andere Frage, als „Wann entsteht ein Stau?“. Seyfried simuliert verschiedene Warteschlangensysteme und variiert die Breite der geordneten Reihen, um zu sehen, wie sich das auf das Drängelverhalten auswirkt. „Es gibt natürlich noch ganz viele andere Faktoren. Alles, was uns ausmacht: Alter, Geschlecht, Größe, Fan oder kein Fan, Sonnenschein usw., alles spielt eine Rolle“, erklärt er, aber „das kann man natürlich nicht alles gleichzeitig untersuchen. Wir müssen das System beschränken und einschneiden. Das macht ja die Wissenschaft aus, dass man letztendlich reproduzierbare Ergebnisse hat. Deshalb haben wir dort nur die Breite variiert und als Probanden auch nur mit Studierenden gearbeitet.“

Der Supercomputer steht in Jülich

Für die Computersimulationen benötigt er einen sogenannten Supercomputer und arbeitet dabei eng mit dem „Institute für Advanced Simulation“ am Forschungszentrum Jülich zusammen. „In Jülich gibt es eine Gruppe, die sich mit der Modellierung und der Simulation von Menschenströmen beschäftigt“, erklärt er, und da ein Computermodell nur so gut sein könne, wie die ermittelten Experimentiererfahrungen, basieren die in Jülich simulierten Modelle auf den erarbeiteten Experimenten der Wuppertaler. „Es geht also darum, dem Computerprogramm beizubringen, wie aus einem Nichtdrängler ein Drängler wird. Diese Parameter bekommen wir durch das Experiment raus und die Modellierer in Jülich überlegen dann, wie sie das in ein mathematisches Modell übertragen, dass dann vom Computer zu berechnen ist.“ So entstünden dann konstruierte Werkzeuge, die einem Planer einer Großveranstaltung es ermöglichten, einen Stau vorherzusagen. Darüber hinaus arbeite zusätzlich noch eine weitere Gruppe in Jülich mit Sensoren, welche Videodaten aus den Experimenten sehr präzise in Laufwege übersetzten.

CroMa – ein aktuelles Projekt

Mit der Übersetzung von Videodaten in unpersonifizierte Laufwegeermittlungen beschäftigt sich auch Seyfrieds aktuelles Projekt mit dem Titel „Crowd Management in Verkehrsinfrastrukturen“, kurz „CroMa“ genannt. In Kooperation mit der Deutschen sowie der Schweizerischen Bundesbahn erklärt der Forscher, „ist diese Kooperation sehr vielfältig. In der Entwicklung befinden sich z.B. an manchen Bahnhöfen Videokameraanlagen, die kein Bild, sondern die Laufwege der Personen detektieren. Wir nutzen diese Daten, um zu ermitteln, wann ein Bahnhof noch funktioniert und wann er nicht mehr sicher ist, entwickeln Prozesse, die die Qualität des Wartens und Ein- und Aussteigens bemessen.“

Aus Erfahrung wisse jeder, dass gerade Plätze nahe der Treppen bevorzugte Warteorte seien. Da könne man dann überlegen, wie man einen Bahnsteig umgestalten könne, um diese Situationen zu entzerren. „Attraktive Warteflächen etwas entfernter vom Ballungspunkt anzulegen, Fahrplaninformationen weg von Wartezonen zu hinterlegen, oder aber an hochfrequentierten Bereichen keine Mülleimer zu positionieren“, zählt er auf, seien auch finanziell machbare Möglichkeiten, die mit der Deutschen Bahn diskutiert würden. „Es gibt Bahnsteige in Frankfurt, die sind mittlerweile leer. Da gibt es keine Sitzplätze mehr, weil sie wissen, dass es sonst nicht funktioniert. Und wir begleiten sie dabei wissenschaftlich.“ Auch interessant sind sogenannte Befüllungsanzeiger an den Infotafeln im Gleisbereich, die augenblicklich getestet werden. Darauf können Reisende vor der Einfahrt des Zuges in den Bahnhof erfahren, welcher Waggon besonders stark belegt ist und bereits im Vorfeld sich für einen anderen Wagen entscheiden.

Corona fordert neue Parameter

Neben den umfangreichen Herausforderungen zur Vermeidung von Stauungen, kommen durch die Pandemie zusätzliche Parameter hinzu, die bedacht werden müssen: Abstand und Hygiene. Seyfried hat dazu ein interessantes Beispiel, an dem eine seiner Doktorandinnen, Mira Küpper, arbeitet. „Frau Küpper hat sich einen Bahnhof in der Schweiz schon vor Corona angeschaut. Von diesem Bahnhof haben wir seit Mitte 2019 kontinuierliche Daten, die zeigen, wie sich alles da verändert hat. Wir können schauen, wie sich die Coronamaßnahmen auf die Bewegung der Menschen ausgewirkt haben. Und das versuchen wir aktuell, mit Methoden zu beziffern. In der Schweiz hat sich das so dargestellt, dass es zunächst keine Maskenpflicht, aber einen zwei Meter Abstand gab, dann wurde die Maskenpflicht gefordert mit einem Mindestabstand von einem Meter fünfzig. Es geht also hin und her. Es gibt immer wieder Forderungen, die alles ändern. Wir sind gespannt, ob man das in den Daten sehen kann.“

Armin Seyfried arbeitet mit seiner Methodenermittlung an Sicherheitsstandards in Alltagssituationen für alle Bürgerinnen und Bürger und stößt auf viel Verständnis. „Das Schöne an diesem Thema ist“, resümiert er, „dass wir alle unsere persönlichen Erfahrungen mit diesem Thema haben, sofort unsere eigene Situation im Kopf und auch eine Vorstellung davon haben, was diese Forschung bedeutet. Und das macht mir gerade auch Spaß.“