"Vollmond" in Wuppertal Im Regen tanzen

Wuppertal · Es wird wieder getanzt. Und wie. Mit einem Solo von überfallartiger Dynamik gleich am Beginn des Stückes verdeutlicht der großartige Rainer Behr, worum es letztendlich geht bei den noch lange nicht aufgearbeiteten Querelen um die Entlassung von Intendantin Adolphe Binder: Hier in Wuppertal laufen Tanzabende, die immer noch zum Besten, Spannendsten und Berührendsten der internationalen Tanzszene überhaupt gehören.

Szene mit Fernando Suels Mendoza und Silvia Farias Heredia.

Foto: Uwe Stratmann

Gut, dass man "Vollmond" im Repertoire hat, ein ungemein dicht choreographiertes Stück mit hinreißenden visuellen Effekten. Zudem tanzt fast komplett die Besetzung der Uraufführung von 2006. Generationswechsel? Bitte sehr behutsam. Und es wird einmal mehr überdeutlich, wie hoch (unerreichbar?) die Messlatte für jede neue Choreographie liegt.

Ein gewaltiger Felsblock beherrscht die Bühne, vielleicht vier Meter lang, hoch und breit. Unwirklich angeleuchtet erhält er eine Präsenz, als bewahre er ein Geheimnis, an das die um ihn herumtollenden Menschen nicht herankommen, das sie vielleicht nicht einmal erahnen. Zum genialen Bühnenbild von Peter Pabst gehört auch das Dunkel dahinter, absolute Schwärze — ein Bühnenraum, der im Nichts endet. Dazu gehört vor allem auch das Wasser, das mehr und mehr zum beherrschenden Element wird, das als Regen vom Bühnenhimmel fällt und von hinten hereingespült wird.

Die Lichtreflexionen der Wassertropfen - wenn Ditta Miranda Jasjfi ihre langen Haare eintaucht und dann herumwirbelt - das gehört sicher zu den einprägsamsten Bildern im Pina-Bausch-Kosmos überhaupt, wie auch die wunderbar durchchoreographierte Wasserschlacht, die sich das Ensemble liefert. Es ist aber eine Unbeschwertheit hart am Abgrund. Nicht nur, wenn die Tänzerinnen und Tänzer sich vom Felsen herabstürzen oder nach tollkühnen Stürzen meterweit über die nasse Bühne gleiten. Vielmehr in den vielen Momenten auf dem schmalen Grat zwischen Zärtlichkeit und Gewalt.

"Vollmond" verbindet die in den späteren Jahren der Bausch-Ära entdeckte unbändige Lust am Tanz mit den Spielszenen, Brechungen und Überraschungsmomenten der frühen Jahre, auch wenn diese nicht mehr die Unerbittlichkeit von einst besitzen. "Es ist Vollmond, man wird nicht betrunken", orakelt die unvergleichliche Nazareth Panadero mit ihrem längst zur Kunst erhobenen Akzent. Es wird viel geküsst, oft mehr mechanisch als beseelt. In einem hinreißenden Ensemble sitzen die Damen so auf der Stuhlkante, dass die Herren virtuos auf die Stuhlfläche springen und quasi im Flug einen Kuss verabreichen können.

Überhaupt die Männer: toben mitunter herum wie Halbstarke, zwischen Spiel und Ernst Kraft erprobend. Kein Wunder, dass Helena Pikon einen Verzweiflungsausbruch erleidet. (Hat jemals jemand so elegant schöne Frauen in Szene gesetzt wie Pina Bausch?) Später hat sie eine dieser anrührenden ganz kleinen Szenen: Bevor sie sich an den Wasserspielen beteiligt, hält sie ganz kurz inne, schöpft Wasser und führt es an den Mund wie etwas Heiliges. Da ist dann wieder etwas von dem Geheimnis, das wir nicht greifen können.

Im zweiten Teil dieses an sich sehr temporeichen Stücks gibt es einen langen melancholischen Abschnitt. Zur Musik eines Streichquartetts tanzt Dominique Mercy, längst zu einer Ikone des Wuppertaler Tanztheaters geworden, eines seiner einsamen, tieftraurigen Soli, und da darf dann auch eine Spur Pathos mitschwingen. Das kraftvolle Finale, in dem viele Bildelemente noch einmal aufgegriffen werden, kann man als Aufforderung lesen, allem Unbegreiflichen unseres Daseins zum Trotz weiterzuleben — weiter zu tanzen.

Verbal beschreiben lässt sich der Zauber nicht. Geben wir daher das letzte Wort Nazareth Panadero: "Wasser kocht bei 100 Grad. Milch, wenn man sich umdreht. Ist immer so."