Begegnungszentrum Alte Feuerwache Jana Ihle: „Das sind kapitale Schäden“

Wuppertal · Unsere Kinder sind die Verlierer der Pandemie. Das sagt man so. Welche Schicksale sich hinter dieser Wahrheit verbergen, weiß Jana Ihle als pädagogische Leiterin der Alten Feuerwache, dem Begegnungszentrum, das in normalen Zeiten Hunderte Kinder aus der Nordstadt mit seinem Angebot erreicht. Sie spricht mit Redakteurin Nina Bossy über Wuppertaler Kinder, für die alles weggebrochen ist und eine Einrichtung, die nicht mehr helfen durfte. Und über ihre Hoffnungen für die Zeit danach.

Jana Ihle.

Foto: Mudjacka Mvunuku

Rundschau: Und auf einmal durften die Kinder nicht mehr kommen. Frau Ihle, der erste Lockdown war etwas, das wir alle bis dahin nicht kannten. Was hat die Unterbrechung Ihrer Arbeit für die Kinder bedeutet?

Ihle: „Die erste Unterbrechung unserer Arbeit war wirklich am heftigsten. Von jetzt auf gleich wurde die Alte Feuerwache geschlossen, wir mussten alles liegen lassen. Über das Telefon und WhatsApp haben wir versucht, Kontakt zu den Kindern zu halten. Das hat mehr oder weniger gut geklappt. Manche Kinder, die uns sehr dringend gebraucht hätten, konnten wir nicht erreichen und wir haben uns Sorgen gemacht, um deren soziale Situation – aber auch um die Grundversorgung.“

Rundschau: Sie haben Essenspakete geschnürt.

Ihle: „Ja. So etwas hatten wir zuvor noch nie gemacht. Aber als die Tafel geschlossen wurde, wussten wir, dass es in manchen Familien zu knapp wird. Die Mittagessen in der Schule, im Kindergarten oder bei uns – das ist für viele Kinder die einzige warme Mahlzeit am Tag. Und einige Familien sind auf diese Versorgung eingestellt und mit dem plötzlichen Ausfall dieser Unterstützung total überfordert. Wir haben also Essenspakete zusammengepackt und manchmal auch den betroffenen Familien vor die Tür gestellt.“

Rundschau: Und die seelische Not?

Ihle: „Vor Corona haben wir eine hausinterne Befragung durchgeführt. Sie hat ergeben, dass zwei Drittel der 6- bis 14-Jährigen, die zu uns kommen, depressive Tendenzen haben. Und dass ein Drittel dieser Kinder sogar deutliche depressive Züge aufweist. Diese Kinder rechnen damit, dass ihnen in ihrem Leben weiterhin schlimme Dinge passieren werden. Die Mitarbeitenden der sozialen Einrichtungen sind bei diesen Kindern oft die einzigen, die mitbekommen, wenn eine Krise droht. Fällt dieser Kontakt weg, sind sie auf sich allein gestellt.“

Rundschau: Dann durften sie wieder öffnen. In welchem Zustand kehrten die Kinder zurück?

Ihle: „Wie schlimm der Einschnitt war, konnten wir vielen Kindern ansehen. Sie hatten abgenommen, prekäre Zahnverhältnisse. Und darüber hinaus sahen wir, dass es ihnen nicht gut ergangen war. Der Nacht-Tag-Rhythmus, die Struktur der Woche, bei uns mühsam erlerntes soziales Verhalten, das war bei manchen Kindern alles weg.“

Rundschau: Wie haben Sie mit dieser Ausgangslage weitergemacht?

Ihle: „Die rund 40 bis 50 Kinder unserer Intensivbetreuung durften wieder kommen. Wir hatten viel Einzelbetreuung, manchmal – je nach aktueller Auflage – konnten wir in Kleingruppen arbeiten. Wir mussten Vertrauen zurückgewinnen. Unser Angebot hat seitdem den primären Fokus, den Kindern Entlastung und Stressabbau zu bieten. Der Mitarbeiter, der mit den Kindern unseren Nutzgarten besucht, hat erzählt, dass manche von ihnen einfach wieder wie Kleinkinder in der Erde gebuddelt haben.“

Rundschau: Was hat den zweiten Lockdown vom ersten unterschieden?

Ihle: „Wir durften unsere Einzelbetreuung die ganze Zeit konstant anbieten. Das war für uns Glück, aber auch eine große Herausforderung. Unsere Einrichtung hatte massive strukturelle Probleme. Denn während der Bedarf gestiegen ist und die Auflagen ein organisatorisches Mehr bedeuteten, sind uns selbst die Einnahmen weg gebrochen. Fördermittel wurden gekürzt, Sponsorengelder kamen nicht. Und unsere Einnahmen, durch Vermietung unserer Veranstaltungsräume sind auch ausgefallen.“

Rundschau: Die Kinder wurden vergessen, das ist derzeit die große Anklage an die Politik. Wie groß ist Ihre Enttäuschung? Was hätte anders laufen müssen?  

Ihle: „Wir haben viel über den Begriff der Systemrelevanz diskutiert. Ich bin überzeugt, dass das, was in der Kinder- und Jugendarbeit verpasst wurde, kapitale Schäden sind. Mit verheerenden Folgen. Ich würde mir wünschen, dass, wenn wir noch einmal in eine solche Situation geraten, der Kinderschutz und auch die Kinderrechte viel mehr Beachtung finden.“

Rundschau: Ein Ende der Pandemie ist in Sicht. Welche Probleme bleiben aus dieser Zeit bestehen und wie kann man die lösen?

Ihle: „Ich bin überzeugt, dass die Problemlagen uns weiterhin gehörig fordern werden. Unsere Einrichtung wird an die Grenze ihrer Belastbarkeit geraten. Wir haben es jetzt mit Kindern zu tun, die ihre vorher so mühsam erlernte Sozialkompetenz verloren haben, die sich nicht mehr in Gruppen zurechtfinden und wieder Vertrauen fassen müssen. Für diese Aufgabe brauchen wir mehr Ressourcen. Ich wünsche mir, sei es auf kommunaler oder Landesebene, dass politische Verantwortungsträger uns mit dieser enormen Herausforderung nicht alleine lassen.“

Rundschau: Und was können wir als Gesellschaft leisten? Ein Stichwort der Alten Feuerwache heißt Nachbarschaft.

Ihle: „Dieser Rückzug ins Private, das hat uns nicht gutgetan. Das haben wir, glaube ich, alle gespürt. Der Mensch ist dafür nicht gemacht. Die Notwendigkeit eines sozialen Systems sollte uns bewusst geworden sein. Mein Wunsch ist es, dass mit dieser Erkenntnis sich nun viele in die Gemeinschaft einbringen möchten. Unser Nutzgarten ist so ein Ort, an dem Quartiersbewohner mit Kindern und Jugendlichen und deren Familien in Kontakt treten können. Nicht nur Institutionen sollten Kindern als Hilfe dienen, sondern auch die Gesellschaft selbst sollte in Kontakt und in Gemeinschaft miteinander leben und die Menschen in einem Quartier, die benachteiligt sind, unterstützen. Ich hoffe, dass sich nach der Pandemie viele auf den Weg machen.“