Interview mit Stadtdechant Bruno Kurth „Die vielen Austritte stimmen nachdenklich“
Wuppertal · Die Austrittswelle sorgt in der katholischen Kirche aktuell für große Unruhe. Warum laufen der Kirche die Menschen weg? Und ist das auch in Wuppertal so? Rundschau-Redakteurin Nina Bossy sprach darüber mit Stadtdechant Dr. Bruno Kurth.
Rundschau: 359.338 Menschen bundesweit sind alleine im vergangenem Jahr aus der katholischen Kirche ausgetreten – ein Rekord. Wie sind die Zahlen in unserer Stadt, wie viele Wuppertaler Mitglieder haben die Kirche 2021 verlassen?
Kurth: „Auch in unserer Stadt sind die Zahlen dramatisch gestiegen. In Wuppertal haben im vergangenem Jahr 1.250 Menschen die katholische Kirche verlassen, im Verhältnis liegt das im bundesweiten Trend. 2021 war auch das erste Jahr, in dem die Zahl der katholischen Austritte ein klein wenig größer war als die der evangelischen, was für Wuppertal ganz untypisch ist.“
Rundschau: Was geht Ihnen als Stadtdechant durch den Kopf, wenn Sie die Kirchenstatistik lesen?
Kurth: „Die vielen Austritte kommen für mich nicht überraschend, dennoch sind sie ein Schlag und stimmen nachdenklich.“
Rundschau: Welche Auswirkungen haben die vielen Austritte auf das Gemeindeleben?
Kurth: „Die Mitglieder unserer Kirche, die vor Ort am Gemeindeleben teilnehmen und es aktiv mitgestalten, sind im Vergleich zur großen Zahl der Kirchenmitglieder in Deutschland ja die kleinere Gruppe. Die hohen Austrittszahlen lassen sie nicht kalt. Fast jeder kennt jemand, der ausgetreten ist oder darüber nachdenkt. Die sich in der Gemeinde engagieren, erzählen, dass sie gefragt werden, warum sie in der Kirche ,noch mitmachen’. Diese Rechtfertigungsposition ist bedrückend, stimmt manchen aber in seinem Engagement noch überzeugter.“
Rundschau: Die Ursache für den Rekord an Austritten scheint zumindest medial sehr klar zu sein: Missbrauchsvorwürfe und Vertuschung dominieren die Nachrichten aus der katholischen Kirche. Teilen Sie diese Ansicht oder sehen Sie noch andere Ursachen?
Kurth: „Primär sind die Missbrauchsfälle und der Umgang damit sicherlich bei vielen ein Grund. Zuvor hat oft schon eine Entfremdung von der Kirche stattgefunden. Der Bezug zur Gemeinde ist bei vielen verloren gegangen. Die Gesellschaft hat sich stark gewandelt. Früher war die Zugehörigkeit zu einer Kirche selbstverständlich. Diese Selbstverständlichkeit schwindet zunehmend, was dem christlichen Glauben als bewusster Entscheidung durchaus entspricht. Dazu kommen andere verstärkende Faktoren. Wird die wirtschaftliche Lage schlechter, werden Menschen überlegen, wo sie sparen können. Das kann auch die Kirchensteuer sein.“
Rundschau: Auch ein Priester, der bis 2016 im Wuppertaler Westen tätig war, ist nun ein verurteilter Straftäter. Gab es nach dem Urteil des Kölner Landgerichts Reaktionen in Form von Austritten?
Kurth: „Bisher ist mir das nicht bekannt, aber dafür ist der Fall noch zu frisch. Jeder, der austritt, wird von uns angeschrieben und nach seinen Gründen gefragt. Möglicherweise wird mir dieser Grund in diesem Jahr in solchen Kontakten begegnen.“
Rundschau: Ich trete aus, aber glaube trotzdem. Das hört man des Öfteren. Sehen Sie einen Zusammenhang zwischen den Kirchenaustritten und einem Verlust christlicher Werte? Oder sind diese Werte von der Amtskirche längst als unabhängig zu betrachten?
Kurth: „Christliche Werte können sicher auch ohne die sogenannte Amtskirche gelebt werden. Soll ,christliches Wertebewusstsein‘ aber keine allgemeine Floskel bleiben, brauchen christliche Werte Gemeinschaften, in denen sie vorgelebt, eingeübt und praktiziert werden. Alleine wird das nur schwer gelingen. Das sind die Familien, das sind auch die Gemeinden, das sind die Kirchen. Werden die Kirchen, die christliche Werte leben und für sie einstehen sollen, kleiner und haben sie ein Vertrauens- und Glaubwürdigkeitsproblem wie aktuell unsere Kirche, dann wird sich das auch auf die Wirkung und die Praxis christlicher Werte in unserer Gesellschaft auswirken.“
Rundschau: Weniger Kirchenmitglieder, weniger Kirchensteuerzahler. Welche Konsequenzen haben die Austritte für die Institution als Immobilienbesitzer? Die evangelische Kirche trennt sich in Folge leerer Bänke seit Jahren viel schneller von ihren Häusern. Wird ein solcher Kurswechsel intern auch in der katholischen Kirche für möglich gehalten?
Kurth: „Die Auseinandersetzung darüber, welche Immobilien wir noch halten können, wird in diesem Jahrzehnt verstärkt auf uns zukommen. Als katholische Kirche trennen wir uns schwerer von geweihten Gotteshäusern, aber auch das passiert jetzt schon vereinzelt – wie gerade in Laaken. In Elberfeld hat unsere Gemeinde St. Laurentius schweren Herzens den Breuer-Saal verkauft. Neben der reinen Kostenfrage ist mit den Immobilien eine weitere Herausforderung verbunden: Unser Bistum möchte klimaneutral werden. Und viele katholische Gotteshäuser sind unter energetischen Gesichtspunkten schwierig.“
Rundschau: Gegenläufig zu den Austrittszahlen zeigt sich die Akzeptanz sozialer katholischer Dienste. Kirchliche Kindergärten oder auch christliche Krankenhäuser und Altenpflegeeinrichtungen sind sehr gefragt. Wie empfinden Sie diese Ambivalenz?
Kurth: „Die hohe Akzeptanz der Caritas und der kirchlichen Krankenhäuser freut mich sehr. Sie zeigt, dass die Menschen sich dort in guten Händen wissen. Diese guten Hände, also die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, müssen wir für unsere Häuser gewinnen. Der Fachkräftemangel ist auch für uns ein Mega-Thema.“
Rundschau: In der katholischen Kirche gibt es ja durchaus ein stärker werdendes Streben nach Modernisierung. Sankt Laurentius hat die Regenbogen-Flagge gehisst. Bei Maria 2.0 setzen sich Frauen für eine Emanzipation in der Kirche ein. Wie bewerten Sie diese Bemühungen?
Kurth: „Ich halte Reformen in der katholischen Kirche für dringend notwendig. Das ist mir übrigens lieber als Modernisierung, also eine reine Angleichung an die Moderne. Das ist nicht der Auftrag der Kirche. In jedem Fall bin ich überzeugt, dass die Kirche auf viele Fragen und Herausforderungen andere, neue Antworten finden muss. Ein Thema ist – Maria 2.0 – die Stellung der Frau. Und auch über die Lebensform von Priestern sollten wir sprechen.“
Rundschau: Sie sprechen den Zölibat an. Das ehelose Leben der Priester ist für viele ein Symbol für das Festhalten an alten Strukturen. Es wird auch als Ursache für strukturell eingekauften Missbrauch diskutiert. Glauben Sie, dass Sie die Abschaffung des Zölibats erleben werden? Wird er jemals abgeschafft? Und würden Sie das befürworten?
Kurth: „Der Zölibat wird nicht abgeschafft werden, die Frage ist, ob er weiter für alle Priester in der römisch-katholischen Kirche verpflichtend bleibt. Ich würde eine Veränderung begrüßen und glaube, dass sie kommen wird. Wann, das kann ich nicht sagen. Aber wir sind auf dem Weg, und es sind bereits jetzt Ausnahmen möglich. In Solingen arbeitet ein ukrainisch-katholischer Priester, der auch in der römisch-katholischen Kirche seelsorgerliche Dienste wahrnehmen kann. Er ist verheiratet und vor kurzem Vater geworden. Seit langem diskutieren wir in der katholischen Kirche darüber, viri probati, das meint in Ehe und Beruf bewährte Männer, auch zu Priestern zu weihen. In dieser Richtung kann sich mehr bewegen.“
Rundschau: Es gibt nicht nur Austritte, es gibt auch Eintritte – durch die Taufe. Wie viele Kinder wurden im vergangenem Jahr in Ihrem Dekanat getauft?
Kurth: „Die genaue Zahl der Taufen für ganz Wuppertal kenne ich nicht. Aber 2021 wurden sicher mehr Kinder als im Vorjahr getauft. Viele Familien haben die durch den Lockdown und in 2020 ausgefallenen Feste wie Taufen und Hochzeiten im vergangenem Jahr nachgeholt.“
Rundschau: Reicht diese Zahl, um guter Hoffnung zu sein? Was bedeutet jede einzelne Taufe für Sie in Hinblick auf die Kirchenkrise?
Kurth: „Diese Zahl reicht natürlich nicht, um eine Trendwende zu bescheren, das ist eine Momentaufnahme. Aber jede einzelne Taufe ist unendlich viel wert. Und für mich Freude und Hoffnung genug, weil sie ein Menschenkind mit Christus verbindet.“