Die wortkarge Wahrheit
92 Jahre alt ist er im Februar geworden. "Totenwache" heißt sein aktueller Erzählungsband. Der Wuppertaler Schriftsteller Karl Otto Mühl hat 21 Geschichten von Abschieden vom Leben gesammelt.
Es sei "sein Dauerthema, das Sterben" — das sagt Mühl selbst bereits im ersten Text. Mag sein. Mag am Alter liegen. Ist aber egal. Denn fest steht: Die Erzählungen, die Karl Otto Mühl in "Totenwache" zusammengestellt hat, sind bis auf drei Ausnahmen außergewöhnliche (Moment-)Aufnahmen einer Zentralfacette des Daseins, des Todes. Und fast immer spielt auch die Liebe mit. Die Freundesliebe, die Männerliebe, die Frauenliebe.
Mühl erzählt vom Sterben auf ganz unterschiedliche Weise: Freunde, Bekannte, Arbeits- und Schriftsteller-Kollegen von vor langer Zeit sind es, deren letzte Tage er begleitet, beschreibt, erzählt bekommt und dann wiedergibt. Beileibe nicht immer geht es um Krankheit und Siechtum, auch das plötzliche, unerwartete Sterben ist ein Thema.
Und vor allem das individuelle Erkennen der Menschen, die da sterben: Das Ungewöhnliche an ihnen, das selbst für Mühl, der die Sterbenden und Gestorbenen teilweise jahrzehntelang kannte, oft völlig überraschend ist. Haarsträubendes, schwer Schicksalhaftes und ganz alltäglich Stilles — Karl Otto Mühl verbindet das unter dem Dach seines ruhigen, nachdenklichen, wortkargen Stils. Wenn es an manchen Stellen auch schwer fällt, die Tränen zurückzuhalten, so nicht etwa wegen der Üppigkeit oder Abschiedsseligkeit der Texte, sondern genau aus dem gegenteiligen Grund. Das wahre Erzählen, das Mühls großes Talent ist, erreicht hier Höhepunkte in erstaunlicher Aneinanderreihung.
Bis auf das Quasi-Vorwort "Die Anwesenheit der Toten" sowie die Texte über Oskar Schlemmer und den ehemaligen "Färberei"-Chef Peter Hansen aus Oberbarmen, die leider schwach und blass bleiben, ist jede Erzählung, die "Totenwache" dem Leser zu bieten hat, ein Edelstein.
Klingt seltsam, das über einen 92-Jährigen zu sagen: Karl Otto Mühl ist kaum je besser gewesen als mit 18 der immer kurzen Texte dieses kleinen Bandes. Klingt seltsam, das über jemanden zu sagen, der viele, viele Bücher und Theaterstücke geschrieben hat. Aber es ist genauso gemeint.