Kommentar: Alarm für die (freiberufliche) Kultur-Szene Was heißt das eigentlich – „systemrelevant“?

Wuppertal · „Wir merken, wir sind nicht systemrelevant“ – mit dieser Überschrift verschickte Kristof Stößel von der „Komödie am Karlsplatz“ gerade einen Brandbrief: Darin beschreibt er seine Situation und seine Ideen, mit denen er zurzeit versucht, sein Haus (und sich) über Wasser zu halten. Die anderen Wuppertaler Privattheater sind in keiner wesentlich anderen – sprich bedrohlichen – Lage.

Stefan Seitz.

Foto: Bettina Osswald

Der über die Stadtgrenzen hinaus bekannte Wuppertaler Musical-Sänger Patrick Stanke machte auf die Probleme von Künstlern aufmerksam, die an staatlich finanzierten Häusern als Gäste engagiert sind: Dort haben sie dieselben Pflichten wie feste Ensemble-Mitglieder, aber jetzt in der Corona-Krise eben nicht automatisch dieselben Rechte. Sprich: Vielfach werden sie nicht weiterbezahlt. Obwohl man sie (wohlgemerkt!) gerade wegen spezieller Fähigkeiten, die das feste Ensemble nicht bieten kann, engagiert hatte.

Die Wuppertaler Autorin Christiane Gibiec berichtet davon, dass zwischen den Rettungsschirm-Ankündigungsversprechen für freie Kulturschaffende und der Wirklichkeit große Lücken klaffen: Von drei vertraglich vereinbarten Gibiec-Einsätzen im Rahmen des Engels-Jahres will man ihr (Info- und Verfahrenswidersprüche zwischen Stadt und Land) nun nur zwei bezahlen – und bei der Beantragung von Soforthilfe für freie Künstler bei der Bezirksregierung bekam sie, trotz belegter Honorarausfälle, eine Absage. Begründung: Der Topf sei leer.

Wie – der Topf ist leer?! Bei all den oben geschilderten Fällen (und vielen, vielen anderen ähnlichen) geht es nicht um staatliche Milliarden wie für Lufthansa, Condor & Co. – nein, da geht es teilweise nur um ein paar Hundert, eventuell wenige Tausend Euro pro Person. Den einzelnen Betroffenen, die mit ihrer künstlerischen Arbeit bis zum Lock-Down unser tägliches Leben bereichert haben – und das fanden wir alle völlig selbstverständlich – kann schon das Fehlen von ein paar Hundertern in der Monatsbilanz das Genick brechen. Große Gewerkschaften im Rücken, die die Muskeln spielen lassen könn(t)en, hat dieser Sektor nicht. Wer macht sich stark für diese Leute?

Die SPD im NRW-Landtag hat einen Antrag in dieser Richtung eingebracht: Wird es dafür eine Mehrheit geben? Und wenn ja, wann? Baden-Württemberg beispielsweise zahlt solo-selbständigen Künstlern und freien Journalisten (deren brandgefährliche Lage in der öffentlichen Wahrnehmung überhaupt nicht vorkommt) pauschal 1.180 Euro pro Monat. Wann zieht NRW nach?

Es scheint, also ob dort, wo die wirklich großartigen Rettungsschirme für beinahe flächendeckend alle Bereiche der deutschen Wirtschaft „erfunden“ wurden und dann (vorbildlich schnell!) verwaltet werden, die wirtschaftliche Wirklichkeit der freien Szene kaum bekannt ist: Dort hat man keine Betriebsstätte, dort schreibt, singt, musiziert, malt, fotografiert man „einfach so“ – und lebt von den dafür gezahlten Honoraren, die wesentlich mit öffentlichen Veranstaltungen verknüpft sind. Umsatz- und Einkommensteuer nahm der Staat stets gern – aber jetzt hakt es, wenn‘s ums Helfen geht? Das passt nicht zusammen.

Jobcenter-Chef Thomas Lenz berichtet von vielen, vielen Neukunden seines Hauses, die nun aus der freien Kultur-, aber auch der freien Event-Veranstaltungsszene Grundsicherung beantragen müssen. Und ja – Lenz hat Recht, wenn er sagt, dass es doch gut sei, wenn der Staat in solchen Fällen Miete, Krankenversicherung und manches mehr übernimmt. Natürlich ist das gut. Aber der bittere Beigeschmack des unverschuldeten Nach-unten-Durchrutschens bleibt.

Kultur ist „systemrelevant“. Daran gibt es für mich keinen Zweifel. Deswegen ist es auch richtig, jetzt die Wuppertaler Bühnen mit 3,6 Millionen zu stützen und in Sachen Pina-Bausch-Zentrum keinen Schritt zurückzuweichen. Übrigens: Wenn das Bühnen-Controlling nicht vergeigt worden wäre, müssten jetzt 1,2 Millionen Euro weniger Hilfe bezahlt werden. Was da wann und von wem falsch gemacht wurde, muss unbedingt geklärt werden!

Wuppertaler Musiksommer abgesagt, die Wuppertaler Kunst- und Museumsnacht abgesagt – abgesagt, abgesagt, abgesagt. Die Kultur-Hiobsbotschaften reißen nicht ab. Deswegen dürfen auch die verlässlichen Hilfen nicht abreißen. Dass die freie Szene sich durch den Solidarpakt „EinTopf“ oder die Online-Plattform „Stew.One“ selbst hilft, hat Riesenapplaus verdient. Aber das wird nicht reichen.

Deutschland ist zurzeit damit beschäftigt, Leben beziehungsweise Gesundheit von Corona-Betroffenen und Corona-Risikogruppen zu schützen. Darüber hinaus geht es aber – so ehrlich muss man sein – darum, unser bisheriges Wirtschafts- und Gesellschaftssystem zu retten. Wenn dabei, wie so oft, einige Sektoren „besser gerettet“ werden als andere, stellt sich für mich eine Frage, die ich vor einiger Zeit als Spray-Graffiti an einer Wand in Elberfeld gesehen habe: Ist das System relevant?