Theater am Engelsgarten Hinter dem Schleier wartet der Schmerz

Wuppertal · Zwei Wochen nach der ersten Premiere von Shakespeares "Der Sturm" im großen Haus (Opernhaus), bietet Thomas Braus im Theater am Engelsgarten mit Thomas Melles "Bilder von uns" eine Art Kontrastprogramm.

Konstantin (Alexander Peiler) kämpft mit den Dämonen seiner Vergangenheit. Ex-Mitschüler Malte (Konstantin Rickert) kann ihm nicht nicht helfen.

Foto: Uwe Schinkel / Wuppertaler Bühnen

Intim, intensiv und emotional aufwühlend. Großes Theater auf der kleinen Bühne.

Noch stehen sie da, am Brunnen. Eingefroren in der Erinnerung und unscharf wie durch einen Schleier. Die ehemaligen Mitschüler, längst nur noch schemenhafte Figuren der Vergangenheit. Wie ein leicht vergilbtes Bild aus einem Fotoalbum, bei dessen Anblick man sich fragt: Bin ich das? War ich das? Was habe ich erlebt? Und an was erinnere ich mich? Über diese Fragen sinnierend, treten sie ganz langsam heraus aus ihrer Starre und sprechen zum Publikum wie der Chor einer antiken Tragödie.

Es ist ein stimmungsvoller Prolog dessen, was im Anschluss geschieht, als Jesko (Stefan Walz) uns vor dem Vorhang begegnet: Ein erfolgreicher Mann, Medienmensch und Vater, souverän, selbstsicher, ein Macher. Oder ist dies nur eine Rolle, die Jesko spielt? Diese Welt gerät ins Wanken, als ihm ein Foto zugespielt wird, das einen nackten zehnjährigen Jungen zeigt — ihn selbst. Und mit einem Mal wird Drescher mit all dem konfrontiert, was er so erfolgreich aus seiner Erinnerung verbannt hatte. Und so zieht es ihn doch hin zu dem Brunnen, Sinnbild für sein Unterbewusstsein und all die verdrängten Gefühle. Jesko sieht hinter den Schleier, der als transparenter Vorhang auf der Bühne ganz wörtlich zu sehen ist und Gegenwart und Erinnerung trennt (Bühnenbild: Hanna Rode). Jesko sucht seine früheren Mitschüler auf, um über das Unaussprechliche zu sprechen, das sich im Internat abgespielt hat. Und verliert dabei die Kontrolle...

Autor Thomas Melle, der für "Bilder von uns" für den Mühlheimer Dramatikerpreis nominiert war, behandelt in seinem Stück nicht die bei Missbrauch übliche Frage nach der Schuld. Sein Blick gehört den Opfern und der Frage nach dem Vergessen, dem Verdrängen und der Wahrheit. Exemplarisch für die verschiedenen Positionen lässt er die ehemaligen Klassenkameraden aufeinandertreffen, wie bei einer szenischen Versuchsanordnung: Den Verdrängungskünstler Jesko, der sich mit der Opferrolle nicht anfreunden will und gern die Deutungshoheit über seine Vergangenheit behalten würde. Stefan Walz verleiht ihm gleichermaßen physische Stärke wie psychische Bruchstellen. Konstantin Rickert zeigt mit Malte, einen vielschichtigen Charakter, der anfangs laut und ziemlich unangenehm daherkommt, dann vehement für Aufklärung und offensive Aufarbeitung eintritt, dabei aber doch einen schalen Nachgeschmack hinterlässt, weil er die Rolle des Anständigen nicht mit Format ausfüllt und schon über seine künftigen Talkshow-Auftritte sinniert. Neuzugang Martin Petschan ist ein echter Charakterkopf, sein Johannes — ein Anwalt, der sich anpasst an das Unausweichliche.

Herausragend ist aber vor allem die Leistung von Alexander Peiler als psychisch desolater Konstantin. Wie er erst 40 Minuten regungslos mit erhobenem Arm wie ein junger Gott als Brunnenskulptur posiert, um dann — komplett nackt — die ganze Verzweiflung eines Missbrauchten zu offenbaren, den Schmerz und die Verzweiflung herauszubrüllen, sich zu winden und zu krümmen, das ist schon großes Kino! Ebenbürtig, wenn auch hier nur kurz erwähnt, die Leistungen von Julia Reznik, Lena Vogt und vor allem Philippine Pachl.

Der junge Regisseur Henri Hüster lässt seine Figuren vor allem über ihre Körper erzählen. Er stellt sie vor verzerrte Masken, lässt sie eindringlich zittern und mit den Armen um Halt rudern, krampfen und verrenken. Schmerzen, wohin man blickt. Dort wird gesagt, was ansonsten unausgesprochen bleibt, auch wenn viel geredet wird. Diese Körperlichkeit tut dem theoretischen Diskurs gut, der so viele Fragen verhandeln will. Wo beginnt der Übergriff? Ab wann werden Leben traumatisiert? In was für einem System ist man aufgewachsen?

Bis an die Grenze des Erträglichen führt die Szene von Konstantins Tod. Über ein Tonband knattern ein paar Sätze in Endlosschleife. Wieder und wieder, bis man es kaum noch aushält. Quälend, ohne Ausweg. In seinem Abschiedsbrief steht: "Es gibt keine Erlösung." Dann wird es dunkel. Enthusiastischer Beifall für großes Theater auf der kleinen Bühne.

"Bilder von uns", 1 Stunde 45 Minuten ohne Pause. Weitere Aufführungen am 20., 22., 27. und 29. Oktober sowie am 5. und 11. November. Karten gibt's unter Telefon 563-7666 und www.kulturkarte-wuppertal.de