Interview mit Helge Lindh "Die SPD muss wieder linker werden"
Wuppertal · Während die SPD auf Bundes- und Kommunalebene immer mehr Wähler verliert, erhält Wuppertals sozialdemokratischer Bundestagsabgeordneter Helge Lindh immer mehr Zuspruch. Woran liegt das? Rundschau-Redakteurin Nicole Bolz sprach mit dem 41-Jährigen über Probleme und Herausforderungen seiner Partei und mögliche Parallelen zum Wuppertaler Tanztheater.
Rundschau: Herr Lindh, unmittelbar nachdem im Juli die Vorwürfe gegen die damalige künstlerische Leiterin des Wuppertaler Tanztheaters Adolphe Binder in den Medien erhoben wurden, forderten Sie eine professionelle Aufarbeitung in den Gremien. Ist das jetzt, vier Monate später, aus Ihrer Sicht erfolgt?
Lindh: Das kann man so nicht sagen. Und ich fühle mich heute in meiner Forderung bestätigt. Natürlich, wir alle wollen das Tanzzentrum, aber das darf nicht dazu führen, dass man Probleme, die es ja einfach am Tanztheater gab, totschweigt, um das Projekt nicht zu gefährden. Dadurch, dass Vorwürfe ungeprüft an die Öffentlichkeit gelangten und Interna selektiv verbreitet wurden, ist großer Schaden entstanden. Alle gehen aus dieser Situation potenziell beschädigt hervor, nicht nur Frau Binder und Herr Hesse, auch der Beirat, die Verwaltung sowie das Tanztheater und das Tanzzentrum.
Rundschau: Worauf kommt es jetzt an?
Lindh: Zwei Dinge haben Priorität: Zuallererst müssen wir dafür sorgen, dass es dem Tanztheater gut geht und es nicht weiter Schaden nimmt. Die Compagnie hat eine Aufklärung des Geschehens verdient. Und an zweiter Stelle geht es ebenso darum, dass das Projekt Tanzzentrum keinesfalls gefährdet wird. Beides geht aber nur, wenn man jetzt klug für Transparenz sorgt. Die Staatsanwaltschaft Wuppertal führt derzeit Ermittlungen, um den Sachverhalt lückenlos aufzuklären. Wir müssen die Ergebnisse abwarten und dann nüchtern bewerten.
Rundschau: Wie kann das geschehen?
Lindh: Die Kunst ist jetzt, nicht in Lagern zu denken, sondern sachlich, entschieden und zugleich behutsam aufzuklären. Neben den Ermittlungen der Staatsanwaltschaft Wuppertal brauchen wir in dieser komplizierten Gemengelage objektive Dritte, die wieder zusammenführen und dabei unterstützen, zu einer respekt- und vertrauensvollen Zusammenarbeit zurückzufinden.
Rundschau: Sehen Sie eigentlich eine Gemeinsamkeit zwischen der Lage des Tanztheaters und der SPD?
Lindh: Ja, tatsächlich. Im Punkt der Transformation sehe ich durchaus Parallelen. Es geht um ähnliche Fragen: Wie bewahrt man das Erbe und trägt es in die Zukunft? Es geht um einen Erneuerungsprozess. Und den muss vor allem die SPD dringend angehen. Außerdem stelle ich fest, dass wir in beiden Fällen aus Angst vor negativen Konsequenzen manchmal nicht den Mut haben, das Richtige zu tun. Das ist gefährlich.
Rundschau: Wie erklären Sie sich denn die großen Probleme Ihrer Partei?
Lindh: Das ist kompliziert. Viele aktuelle gesellschaftliche Fragen sind eigentlich zutiefst sozialdemokratisch: Wir haben immer mehr prekäre Beschäftigungsverhältnisse, unsere Sozialversicherungs- und Rentensysteme müssen grundlegend verändert werden, es gibt ein eklatantes Armutsproblem, die Arbeit verändert sich grundlegend — wie sorgen wir bei all dem dafür, dass die Menschen nicht völlig abstürzen?
Okay, die Fragen sind also da, aber warum sind die Ergebnisse so schlecht?
Die SPD muss wieder große Ideen und Visionen entwickeln, auch wieder linker werden. Wir müssen uns den großen Fragen wie Frieden, Rüstung und Europa widmen, nicht nur den Blick auf den technischen Betrieb lenken. Wir müssen endlich mutiger werden, wieder wichtige Fragen formulieren wagen, auch wenn wir die Antworten darauf nicht kennen. Die SPD ist noch immer eine Volkspartei, wenn auch momentan auf niedrigem Niveau. Das heißt, bei uns finden sich Wähler aus den unterschiedlichsten Schichten wieder — und damit auch mit sehr widersprüchlichen Erwartungen an uns. Das führt dazu, dass wir uns oft nicht trauen, Position zu beziehen, um andere Wähler nicht zu verprellen. Die Kunst ist es, diese verschiedenen Gruppen nicht gegeneinander auszuspielen, sondern sie miteinander zu verbinden.
Rundschau: Erklären Sie das mal genauer bitte.
Lindh: Nehmen wir die Flüchtlinge und die Menschen, die sich in unserer Gesellschaft nicht gehört und gesehen fühlen. Populisten spielen beide Gruppen immer gegeneinander aus. Dabei treffen sie sich in dem Punkt der Sprachlosigkeit. Die stehen eigentlich auf einer Seite.
Rundschau: Sie beziehen ja auch öfter mal klar Stellung, wenn Ihre Partei eine andere Haltung hat, Beispiel Seebrücke.
Lindh: Ja. Das Sterben im Mittelmeer macht ja vor Parteipolitik nicht Halt. Aber wir eiern nur herum. Die Abschaffung des Asylrechts ist indiskutabel. Aber wir müssen integrationspolitisch was tun und endlich eine Debatte führen, die sich an den realen Lebenswelten und Problemen orientiert. Man muss zeigen, dass man einen klaren Kompass hat, der nicht wackelt, weil es unbequem wird. Nicht immer so taktisch denken. Das führt nur dazu, dass die Menschen immer politikverdrossener werden.
Rundschau: Sprechen wir mal über Wuppertal. Die SPD ist nun raus aus der Großen Kooperation mit der CDU und tut sich augenscheinlich schwer mit der neuen Situation …
Lindh: In langen Zeiten einer Großen Koalition werden die Grenzen zwischen den Parteien unschärfer. Aber das allein wäre zu platt. Ich habe die Hoffnung, dass es der SPD bis zur Kommunalwahl 2020 gelingt, sich als klare soziale Kraft sichtbar zu machen — mit allen Themen, die die Stadt mit bringt. Die Lage Wuppertals schreit nach sozialdemokratischen Antworten.
Rundschau: Was meinen Sie damit?
Lindh: Wuppertal hat eine spannende Realität zwischen Utopiastadt und dem Berliner Platz. Wir müssen mehr noch dahin gehen, wo es weh tut, um das wahrzunehmen: Die Menschen in Wichlinghausen, Heckinghausen oder Oberbarmen fühlen sich nicht wahrgenommen. Sie denken, sie spielen keine Rolle. Man muss ihnen endlich zuhören.
Rundschau: Auch Oberbürgermeister Andreas Mucke gerät immer öfter in die Kritik. Zu Recht?
Lindh: Nein. Der OB verdient jede Rückendeckung. Von der Partei, der Fraktion und den Wählern. Seine Stärke ist unter anderem seine unprätentiöse Verbindung und Nähe zu den Menschen. Ich hoffe, er verknüpft sich weiterhin konsequent mit konkreten Themen und Projekten und wird als politischer OB besonders sichtbar.