Wuppertalerin seit 18 Jahren verschwunden Wo ist Tanja?

Wuppertal · 1998 verschwand das 15-jährige Mädchen vom Carl-Duisberg-Gymnasium. Ihre Mutter im Gespräch über ein Leben ohne ihre Tochter.

20. Oktober 1998. Der Tag verlief nicht ungewöhnlich. Tanja ging zur Schule, Elisabeth Mühlinghaus zur Arbeit. Alles ganz normal, zum letzten Mal. Einen Tag später stand die Mutter vor dem Carl-Duisberg-Gymnasium. Tanja hatte zuvor angerufen, wollte später abgeholt werden. Sie kommt nicht. Das Bild von Tanja Mühlinghaus, 15 Jahre alt, geht bald um die Welt. Seitdem bewegt Wuppertal die Geschichte, die Elisabeth Kronauers ganzes Leben umgeschrieben hat. Tanja ist immer noch nicht da.

15 Jahre zuvor, 10. März 1983. Elisabeth Mühlinghaus fühlt sich gut als die erste Wehe einsetzt. Noch am Abend fährt ihr Mann sie ins Krankenhaus. Die 31-Jährige isst vor dem Kreissaal noch ein Brötchen, zwei Stunden später ist ihr Baby auf der Welt. Zarte Haut, winzige Finger, alles dran, versprachen die Ärzte. Ein Mädchen, so klein und perfekt. Tanja.

Zwei Tage, die vor dem größten Glück von Elisabeth Kronauer und vor dem größten Schmerz ihres Lebens liegen. Die heute 64-Jährige sitzt auf ihrem Sofa, in einer Wohnung in Elberfeld, seit anderthalb Jahren trägt sie wieder ihren Mädchennamen. Vom Balkon aus ist der herbstliche Wald zu sehen. Der 10. März und der 20. Oktober sind für sie gesetzt. Dann lässt sie die Szenen passieren. Der Tag bevor ihre Tochter auf die Welt kam und der Tag bevor sie aus ihrem Leben ging. Ein Mantra, seit 18 Jahren.

Tanja Mühlinghaus verschwand und hinterließ zunächst keine Spuren. Einige Tage später erreichten ihre Eltern zwei Briefe. Sucht nicht nach mir, bat sie und versprach: Ich komme in zwei bis drei Wochen wieder. Die Eltern verzweifelten vor Sorge, wollten ihr aber die Zeit geben. Sie warteten bis zum 2. November. Dann traten sie in die Öffentlichkeit und ein Sturm brach los.

Wo ist Tanja? Die Frage bewegte die Bundesrepublik, Menschen auf der ganzen Welt. Das Bild des Mädchens prägte die Stadt. Braune Haare, braun-grüne Augen. Tanja lächelt auf der Vermisstenanzeige. So hübsch. Bei der Polizei gingen Hunderte Hinweise ein. Zu Tanja führte kein einziger. Die Eltern tingelten durch die Schlagzeilen und das Fernsehprogramm. "Komm nach Hause", baten sie immer und immer wieder.

Ihr Schicksal offen gelebt zu haben, hat Elisabeth Kronauer nie bereut. Alles für die Suche getan zu haben, sei entscheidend. "Die Öffentlichkeit hat mir geholfen", sagt sie. Wie soll das auch gehen, den Schmerz, der dir den Atem raubt, vor Freunden und Kollegen zurückhalten? Bis heute spricht sie oft über Tanja, im Privaten und in der Öffentlichkeit. Nur wenn sie manchmal nicht damit rechnet, ihrer Tochter in den Medien zu begegnen, trifft sie der Schmerz unmittelbar. "Ich mache den Computer an und plötzlich schaut Tanja mich an. Dann reißt es mich weg."

Eine Erklärung, was Tanja passiert ist, gibt es keine. Theorien schon. Die Briefe sprechen dafür, dass das Mädchen zunächst freiwillig gegangen ist. Liebeskummer und dann den falschen Menschen verfallen? Ihre Mutter weiß es schlichtweg nicht. Tanja war 15, ein Teenager. Die Vitrine, die früher in ihrem Zimmer stand, steht heute im Wohnzimmer ihrer Mutter und erzählt die Geschichte einer ganz normal heranwachsenden Frau. Parfumflakons, stolz und ordentlich in Reihe gestellt, ein Andenken aus Venedig, eine leere Flasche Sekt.

Bilder, was Tanja passiert sein kann, gibt es keine in Elisabeth Kronauers Kopf. Das kann sie nicht zulassen. Wenn sie Fälle von Natascha Kampusch oder den drei nach zehn Jahren befreiten Frauen aus einem Keller in Cleveland hört, bestätigt sie das in ihrer tiefen Intuition. Alles ist immer noch möglich. Und bis jetzt gibt es keine Leiche.

Wenn Elisabeth Kronauer sich darauf einlässt, sieht sie eine Frau, über 30. Sie ist hübsch, aber gezeichnet. Sie würde ihr Mädchen erkennen. Die Augen und die Stimme. "Ich liebe Tanja immer noch so sehr", sagt sie. "Falls sie heimkommen sollte, braucht sie Zeit, die ich ihr geben werde", verspricht die Mutter in die 18 Jahre lange Abwesenheit.

24. Dezember 1997. Tanja lacht ausgelassen und hängt behutsam Kugel für Kugel an den Baum. An dem Tag ist die Stimmung ausgelassen, die Familie feiert gemeinsam Heiligabend.

Seitdem fand für Elisabeth Kronauer nie wieder Weihnachten statt. Bis vergangenes Jahr. Sie fährt mit ihrem Lebensgefährten in den Baumarkt und sie sieht einen Baum, viel größer als den, den sie sich ausgemalt hat. Sie stellt ihn auf und schmückt ihn. Mit Lametta, wie ihre Mutter es getan hat. Elisabeth Kronauer isst an Heiligabend Kartoffelsalat mit Würstchen und betrachtet das Licht. Am nächsten Tag kocht sie Gänsebraten. Nur für sich. "Ich habe es so genossen", sagt sie.

In diesem Jahr wird Elisabeth Kronauer nicht bis Heiligabend warten. Anfang Dezember soll der Baum stehen und in diesem Winter möchte sie ihre ganze Wohnung dekorieren. Tannengrün, das nach Weihnachten duftet. "Ich habe mich bis auf zwei Tage im Oktober und zwei Tage im März von Daten gelöst", sagt sie. Auch die Kerzen am Adventskranz wird sie nicht Woche für Woche entzünden. "Das Adventslicht bedeutet Hoffnung. Und wann ich die spüre, entscheide ich."

Tanja ist jetzt schon 18 Jahre weg. Ihre Mutter sagt, sie habe immer wieder die Wahl gehabt. Schwimmen oder untergehen. Elisabeth Kronauer schwimmt.